Mehr Wahlbeteiligung durch mehr Wahltage?
Von Ann-Kristin Kölln.
Die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen ist von 1983 bis 2013 von 89,1 auf 71,5 Prozent gesunken. Bürgerbeteiligung bei Wahlen ist nicht mehr das, was sie einmal war. Erste Überlegungen zur Verbesserung sehen den Gang zur Urne richtigerweise auch als eine Kosten-Nutzen-Entscheidung des Wählers. Doch anstatt den Nutzen für Wähler verbessern zu wollen, setzen erste Vorschläge von SPD-Generalsekräterin Yasmin Fahimi im Interview mit DER WELT am 26. Dezember 2014 lediglich bei den Kosten an. Eine verlängerte Wahlperiode und mehr Wahllokale wie in Schweden sollen die Wahlbeteiligung wieder steigern. Ihre Idee im Supermarkt wählen gehen zu können, mag zwar interessant und praktisch sein, löst aber kaum das eigentliche Problem mangelnder Wählerbeteiligung. Wenn das Angebot nicht stimmt, werden weniger zugreifen. Das ist bei Wahlentscheidungen nichts anderes als bei Kaufentscheidungen. In dieser Hinsicht passt die Idee der Verlegung des Wahllokals in den Supermarkt in der Tat.
Im Interview verweist Frau Fahimi auf Schweden als Beispiel. Dort kann an 18 Tagen vor der Wahl schon vorzeitig in Stadtbibliotheken und an anderen öffentlichen Orten gewählt werden. Die Vorauswahl (förtidsröstning) ist dort schon seit 1942 möglich und wurde in Reformen in den Jahren 1969 und 2006 deutlich ausgebaut. Aber auch Schweden hat mit sinkender Wahlbeteiligung zu kämpfen. Zwar nahmen in diesem Jahr 83,3 Prozent der Wahlberechtigten an den Wahlen zum Riksdag teil, aber in den 1980er Jahren lag diese Zahl schon einmal jenseits der 90 Prozent. Die Anzahl der Wahltage oder Wahllokale scheint demnach kein Allheilmittel zu sein.
Warum gehen Bürger überhaupt wählen? Manche gehen wählen, weil sie es als eine demokratische Pflicht sehen, andere aus Gewohnheit. Noch häufiger wird der Gang zur Urne in der Politikwissenschaft als Kosten-Nutzen-Entscheidung verstanden. Wir gehen nicht einfach „nur“ wählen. Wir entscheiden uns nicht einfach für irgendjemanden. Mit der Wahlbeteiligung ist auch eine positive Entscheidung für eine Person oder Partei und gegen alle anderen verbunden. Der Wähler entscheidet sich für eine Alternative, weil er davon ausgeht, dass die gewählte Partei seine Interessen vertreten wird. Diese Partei verspricht dem Wähler den größten Nutzen. Das rechtfertigt den Gang zur Urne und übertrifft die damit verbundenen Kosten, wie zum Beispiel die zurückzulegende Wegstrecke oder den Zeitverlust.
Der erste Vorschlag von Yasmin Fahimi zur Verbesserung der Wahlbeteiligung verringert die Kosten des Wählens. Wenn wir nicht mehr nur an diesem einen Sonntag in einem einzigen Wahllokal oder per Briefwahl wählen können, sondern an mehreren Tagen an einem Wahllokal unserer Wahl wie in Schweden, werden die Kosten des Wählens verringert. Wählen wird uns einfacher gemacht. Das stimmt. Damit würde es sich die Politik aber auch sehr einfach machen. Denn, wenn sinkende Wahlbeteiligung tatsächlich das Resultat einer Kosten-Nutzen-Entscheidung ist, müsste die Politik eher am Nutzen ansetzen. Wer für sich einen Nutzen im Wählen sieht, das heißt, wer für sich ein gutes Angebot auf dem Tisch liegen sieht, wird auch zugreifen. Auch auf einem Sonntag und auch, wenn er dafür in die nächstgelegene Grundschule gehen muss. Wir zeigen alleine schon in unserem alltäglichen Kaufverhalten, dass uns ein gutes Angebot viele Hürden überwinden lässt. Warum sonst stehen hunderte von Käufern Schlange, um das eine Angebot abzugreifen. Das Angebot oder der Nutzen muss die Kosten übertreffen – auch in der Politik.
Die sinkende Wahlbeteiligung ist Ausdruck von Desinteresse und Enttäuschung. Das sagt auch Yasmin Fahimi im Interview. Damit ist der wahrgenommene Nutzen das eigentliche Problem, nicht die Kosten des Wählens. Mit mehr Wahltagen und Wahllokalen wird man nicht viel an der Wahlbeteiligung rütteln können. Politiker und Parteien müssten vielmehr ihr Angebot an den Wähler interessanter machen und das Vertrauen des Bürgers in die Politik stärken. Dafür müssen sie aber erstens wieder häufiger in direkten Kontakt mit Bürgern treten, ihnen zuhören und ihre Interessen glaubwürdig vertreten. Das verbessert das Angebot. Zweitens müssen sich politische Alternativen sichtbar voneinander unterscheiden, um für den Wähler interessant zu sein. Politiker müssten daher Wählern deutlich machen, was ihre konkrete Kritik am Vorschlag anderer ist. Sie müssten aber auch eine eigene konstruktive Lösung des Problems vorschlagen. Nur dadurch werden Unterschiede zwischen politischen Alternativen deutlich und Wähler können sich für eine und gegen andere Angebote entscheiden. Das könnte auch desinteressierte und enttäuschte Wähler für Politik wiedergewinnen.
Beide Maßnahmen sind natürlich mit deutlich mehr Aufwand seitens der Politik verbunden, als ein Ausbau von Wahlmöglichkeiten. Sobald sich aber das Angebot der Politik verbessert, wird der Wähler auch den Nutzen seiner Stimmabgabe sehen und den Gang zur Urne als eine persönliche und politische Investition verstehen. Der einzelne Sonntag und der zehnminütige Fußweg zum Wahllokal werden diese Wähler dann auch nicht abhalten.
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Ann-Kristin Kölln ist eine Politikwissenschaftlerin, die als Associate Profesor am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Aarhus in Dänemark arbeitet. Zuvor hat sie an der KU Leuven in Belgien, der Universiät Göteborg in Schweden und der Universität Twente in den Niederlanden geforscht. Ihr Forschungsinteresse liegt insbesondere in den Bereichen politische Parteien, Meinungsbildung zu politischen Prozessen, Umfrageforschung und Theorien zur repräsentatitiven Demokratie.
Disclaimer
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten und Meinungen entsprechen denen der Autorin.