Ode an die Zivilgesellschaft
Von Götz Frommholz.
Parteien sind teilweise sehr blind und ihr Wissen über demokratische Werkzeuge ist oft begrenzt. Das bemerkte Wolfgang Merkel in seiner typischen Deutlichkeit vergangene Woche auf einer Konferenz am WZB. Seiner Argumentation nach erscheine es paradox, dass sich Linke und SPD für mehr Referenden einsetzen, während sich FDP und CDU/CSU deutlich davon distanzieren. So seien doch gerade letztere Parteien die eigentlichen Nutznießer von Volksentscheiden, an denen erfahrungsgemäß größtenteils die bildungsnahe Mittelschicht teilnimmt und durch die somit die Seite der liberalen und konservativen Parteien gestärkt wird. Im gleichen Atemzug setzte Wolfgang Merkel hinterher, dass aus genau diesem Grund nicht — wie so oft an anderer Stelle betont — auf die Zivilgesellschaft und ihr Engagement als Lösung für die Krise der Demokratie gesetzt werden kann. Die Mittelschicht habe alle Instanzen und Institutionen der repräsentativen Demokratie in Deutschland besetzt und sei noch nie so gut im politischen Spektrum repräsentiert gewesen wie heute. Andere Schichten seien nach Merkel dagegen nicht vertreten, was besonders die Schlagkraft der Zivilgesellschaft betreffe. Deswegen könne man nicht auf diese setzen, weil eh nur die dieselben Akteure bedient werden.
Eine deutliche wie plausible Richtungsweisung von Herrn Merkel. Dennoch frage ich mich: Darf das die Antwort sein? Herr Merkel hat mit seiner Aussage empirisch sicher recht und ich unterstelle ihm bei Weitem keine bösen Absichten. Doch müssen wir uns Gedanken darüber machen, nicht einfach nur den Status Quo zu beschreiben, sondern uns vielmehr auch nach Werkzeugen umzusehen, die es anderen Gesellschaftsschichten ermöglicht, in die Prozesse der deutschen Demokratie wieder eingebunden werden zu können. Und ich denke: Gerade hierfür brauchen wir die Zivilgesellschaft! Wir sollten uns der Ausgangssituation stellen. Warum beteiligt sich in der Regel nur die Mittelschicht an Volksentscheiden? Sicherlich findet Bourdieu seinen Platz in dieser Diskussion, doch liegt der Fokus dieses Beitrages nicht in der Verteilung von unterschiedlichen Formen von Kapital in der Gesellschaft. Vielmehr geht es um die Adressierung des Grundproblems: zurückgehende Wahlbeteiligungen und die scheinbare Politikverdrossenheit in Deutschland. Es kann nicht sein, dass wir aufgrund eines „Schichten-Bias“ auf demokratisch legitimierte Instrumente verzichten, wenn Sie von der Idee her doch gut sind. Nämlich: Bürgerinnen und Bürger politisch zu beteiligen. Sicherlich können und müssen wir Parteien empfehlen, sich für ausgewählte Instrumente einzusetzen, die Ihrer Zielgruppe entsprechen. Ist das demokratisch? Natürlich! Demokratie ist Streit, Strategie und die Ausklammerung der gegenüberliegenden Meinung. Ansonsten würde man nicht der SPD zu einem guten Verhältnis mit der Arbeitnehmerschaft raten oder der FDP nahelegen, Ihre Beziehungen zur den Apothekern zu pflegen.
Ist eine solche Klientelpolitik wünschenswert? Vielleicht nicht. Doch ist Lobbypolitik ein elementarer Bestandteil unserer repräsentativen Demokratie; vielmehr jeder repräsentativen Demokratie. Dennoch bleibt die demokratische Grundidee: die Beteiligung von — idealer Weise allen — Bürgerinnen und Bürgern. Wenn einer der führenden Politikwissenschaftler dieses Landes keine Zukunft für die Zivilgesellschaft als geeignetes Instrument für die politische Beteiligung sieht, dann ist das ein Grund zur Sorge. Denn das heißt für mich konkret: Mein Engagement außerhalb der herkömmlichen politischen Beteiligung bringt nichts außer der Auseinandersetzung mit meiner eigenen Schichtzugehörigkeit. Der Wirkungsgrad darüber hinaus verpufft also. Ich bewege nichts. Dann gehe ich halt nur noch wählen. Oder auch nicht. Eine solche Bankrotterklärung in Richtung Zivilgesellschaft darf eine Demokratie nicht hinnehmen. Sie darf nicht vor dem Status Quo zurück schrecken. Viel mehr muss sie sich dafür einsetzen, die Instrumente der repräsentativen Demokratie für alle Bürgerinnen und Bürger zugänglich zu machen. Es ist die Aufgabe von Politikschaffenden und Wissenschaftlern, die Instrumente zu entwickeln, um politische Partizipation zu fördern und Menschen zu motivieren. Es müssen wegweisende Instrumente geschaffen werden, mit denen wir unsere bestehenden Werkzeuge wieder für die Menschen attraktiv machen. Herr Merkel hätte also sagen müssen: „Zur Zeit erreichen wir über die Zivilgesellschaft nicht alle Schichten in Deutschland. Wir müssen X und Y umsetzen, damit sie wieder zu einem legitimen Instrument politischer Partizipation wird und die Gesellschaft repräsentativ abbildet.“
Wir brauchen ein Umdenken auf allen Ebenen. Der goldene Weg hin zu X oder Y führt über eine Bestandsaufnahme des politischen Interesses unter den Bürgern und über daraus erwachsende praxisnahe sowie problemlösende Ansätze zur Lösung der Demokratiekrise. Fakt ist: Wir haben in Deutschland keine Ahnung, inwiefern Menschen politisch aktiv und interessiert sind und wie sie sich beteiligen wollen. Instrumente wie die von unseren Kollegen von Liquid Democracy e.V. entwickelten neuen Formen der Bürgerbeteiligung oder der von uns zu erarbeitende politische Partizipationsindex können dabei helfen, frische Ideen zu entwickeln. Denn die wachsen zuerst am besten in Organisationen, die sich trauen, außerhalb des bestehenden Machtgefüges zu experimentieren und Ideen zu entwickeln, bevor Parteien und Organisationen an ihrer Umsetzung feilen können. Schlussendlich zählt: Wir brauchen die Zivilgesellschaft und wir alle müssen an ihr arbeiten. Ihr Bankrott wäre unser Ruin. Das hätte ich Herrn Merkel gern noch mit auf den Weg gegeben.