#Partizipationsdebatten

Bürgerräte sind gut — Bundeswerkstatt ist besser! 

von Prof. Sonja Hörster 

Unsere aktuellen politischen Systeme sind dem schnellen Wandel und der Mehrdimensionalität neuer Herausforderungen nicht gewachsen. Themen, die uns alle angehen, lassen sich nicht mehr durch die bisher eingeführten Verfahren lösen. Vor diesem Hintergrund entstehen seit einigen Jahren u.a. Bürger*innenräte auf National‑, Landes- oder Kommunalebene. Das ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, geht aber lange noch nicht weit genug. Warum?

Neue Formen von Global Governance brauchen neue Formen der Zusammenarbeit
In Bürger*innenräten arbeiten Bürger*innen getrennt von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Institutionen an Empfehlungen zu einem Thema. Sie werden von Expert*innen über Sachzusammenhänge informiert. Ihre Empfehlungen überreichen sie der Politik. Diese nimmt sie zur Kenntnis. Eine Verbindlichkeit im Umgang mit diesen ist — zumindest in Deutschland — bisher nicht verankert. Sphären und Logiken bleiben getrennt. Das Konzept Bundeswerkstatt bricht dieses Silodenken auf. Hier arbeiten Bürger*innen mit Politiker*innen, mit Verwaltung, mit Wissenschaft usw. gemeinsam an Lösungen und Gesetzesvorlagen.

Beteiligung muss ernst genommen werden
Die Bundeswerkstatt ist anders als ein Bürger*innenrat kein einzelnes, punktuell angelegtes Partizipationsverfahren an wechselnden Orten, sondern wird als feste Institution mit einem festen Budget an einem festen Ort gedacht. Nur so ist eine dauerhafte und nachhaltige Verankerung innerhalb des politischen Systems denkbar und eine wirkungsvolle und in Unabhängigkeit von der Tagespolitik stehende Durchführung von partizipativen Verfahren möglich.

Beteiligung muss transparent organisiert sein
Die Bundeswerkstatt verfügt über eine administrative Organisationsstruktur. Diese ist für die Leitung der Institution genauso wie für die Beauftragung konkreter Beteiligungsverfahren auf Basis der entsprechenden Initiierungs- und Qualifizierungsverfahren im Rahmen festgelegter Regularien verantwortlich. Zudem übernimmt der administrative Bereich die fachliche und rechtliche Prüfung sowohl der Rahmenbedingungen als auch der Ergebnisse. Dadurch wird eine transparente Struktur geschaffen.

Funktionalität und Multiperspektivität der Bundeswerkstatt
Bürger*innenräte arbeiten bisher ausschliesslich deliberativ. In der Bundeswerkstatt wird miteinander entwickelt und konzipiert. Dabei folgt das Beteiligungskonzept dem Ansatz „form follows function“. Konkrete Beteiligungsverfahren und ‑formate werden von entsprechenden Fachstellen und Beteiligungsexpert*innen nach Beauftragung durch den administrativen Bereich in Bezug auf das jeweilige Thema und die entsprechende Fragestellung ausgearbeitet. Dadurch erhält jedes Thema und jede Fragestellung ein Verfahren, das exakt auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnitten ist und trotzdem eindeutigen und transparenten Verfahrensregeln und Qualitätskriterien folgt. Im Idealfall geschieht die Verfahrensentwicklung unter Einbeziehung diverser Stakeholder.
Bei der Entwicklung der Formate werden alle Entscheidungen öffentlich dargestellt und begründet. Die planenden Beteiligungsexpert*innen sind dazu angehalten, die höchsten und aktuellsten Standards guter Beteiligungspraxis in ihren Verfahrensdesigns zu berücksichtigen. Voraussetzung für die Bewältigung dieser Kernaufgaben ist es, dass die Bundeswerkstatt als Intermediär zwischen Regierungsinstitutionen und zivilgesellschaft-lichen Akteur*innen agiert. Das heißt, sie muss im weitesten Sinne unabhängig agieren können, aber zugleich Vertrauen auf Seiten der Bevölkerung, zivilgesellschaftlicher Organisationen und Interessengruppen als auch der Politik und Verwaltung genießen, was ihre Beteiligungsexpertise betrifft. Eine entscheidende Frage ist diesbezüglich, wer durch welches Prozedere Beteiligungsverfahren in der Bundeswerkstatt initiieren kann.

Die Macht der Themenwahl
Die Bundeswerkstatt kann direkt durch die Zivilgesellschaft angerufen werden. Dazu muss ein ziviles Qualifizierungsverfahren entwickelt werden, das mindestens eine Relevanzschwelle enthält, z. B. ein Quorum ähnlich dem eines Bürgerentscheids. Denkbar sind jedoch auch differenziertere Verfahren, in denen Themen z. B. in Form von Onlineforen auch inhaltlich qualifiziert werden müssen. Rahmenbedingungen und Fragestellungen müssten beispielsweise schon im Vorfeld einen gewissen Konkretisierungsgrad durch die debattierenden Bürger*innen erlangen.
Sollte die Möglichkeit der Initiierung von Beteiligungsverfahren durch Regierungsinstitutionen nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, eröffnen sich zwei mögliche Ansätze zur Durchführung. Erstens könnten Regierungsinstitutionen eigenständig Beteiligungsverfahren in der Bundeswerkstatt initiieren. In diesem Fall wäre ebenfalls ein separates Qualifizierungsverfahren mit Relevanzschwelle zu erarbeiten. Oder zweitens könnte man für Regierungsinstitutionen exakt die gleichen Hürden und Verfahren in Kraft setzen wie für die zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, da die Möglichkeit der Initiierung aus den Regierungsinstitutionen heraus eine Reihe rechtlicher, inhaltlicher und machttheoretischer Fragen hervorruft. Auch Regierungsinstitutionen müssten dann über die direkte Kommunikation mit der Zivilgesellschaft ihren Vorschlägen genügend Rückhalt verschaffen, um die notwendigen Schwellen mit Unterstützung der Bürger*innen zu überwinden.

Die Verbindlichkeit der Ergebnisse
In Bürger*innenräten und in der Bundeswerkstatt finden wichtige gesellschaftliche Diskurse zu relevanten aktuellen Themen statt. Bei entsprechender medialer Begleitung können normative Zielvorstellungen, nach denen die Gesellschaft diese Themen für die Zukunft gestalten möchte, öffentlich verhandelt werden. Die Bundeswerkstatt erarbeitet Empfehlungen, die auf eine politische Gestaltung durch entsprechende Gesetze, Verordnungen und Vorschriften zielen. Aktuell sind vier Varianten denkbar, wie diese Empfehlungen in den Prozess der Gesetzgebung einfließen können:

1. Es wird eine direkte Weitergabe der Empfehlungen an die Bundesregierung inklusive einer Befassungspflicht verankert. Diese kann auf Grundlage der Empfehlungen einen Gesetzesvorschlag in den Bundestag einbringen oder die Empfehlungen verwerfen, muss jedoch Rechenschaft für ihren Umgang ablegen.

2. Die Befassung des Bundestags mit den Empfehlungen wird festgeschrieben und dieser entscheidet, ob und in welcher Form aus den Empfehlungen eine Gesetzesinitiative oder eine andere Maßnahme erfolgt.

3. Den Empfehlungen wird im Einzelfall direkt die Qualität einer Gesetzesinitiative zugesprochen, die durch ein gewähltes Gremium aus dem jeweiligen Beteiligungsverfahren vertreten wird. Dazu müsste der Bundesbeteiligungswerkstatt jedoch durch eine Verfassungsänderung ein Initiativrecht zugestanden werden. Die finale Entscheidung über den Erfolg oder Misserfolg der Gesetzesinitiative trifft aber der Bundestag.

4. Die Empfehlungen aus einem Beteiligungsverfahren führen direkt oder über die Hürde eines weiteren Quorums zu einer Volksinitiative oder einem Referendum. Der Bundestag würde in diesem Fall übersprungen. Eine Verfassungsänderung wäre hier ebenfalls notwendig.

Der bisherige Ergebnistyp von Bürger*innenräten ist dagegen bisher beratend und nicht gesetzgebend. In diesem Kontext verpflichten sich Politiker*innen meist zu einem Umgang in Form einer Stellungnahme. Damit hält sich die politische Instanz jedoch vor, darüber zu entscheiden, ob, wann und in welcher Form die Umsetzung der Ergebnisse erfolgt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Bürger*innenrat keinerlei Einfluss auf die Art des Ergebnisses geschweige denn auf dessen Umsetzung hat.
Hier wird ein großer Kritikpunkt an den bis jetzt bekannten Bürger*innenräten sichtbar. Könnte man doch meinen, die inhaltliche Ausarbeitung der Empfehlungen wäre maßgebend für den Erfolg eines Bürger*innenrats, liegt der entscheidende Punkt an ganz anderer Stelle: in der Bestimmung des Ergebnistyps und der Ergebnisverwertung. Der Ergebnistyp als auch die Art der Ergebnisverwertung bestimmen ausschließlich, inwieweit die Zivilgesellschaft Einfluss auf die Umsetzung der Ergebnisse hat. Sie sind ausschlaggebend für die wirkliche Gestaltungsmacht von Beteiligung in der Entscheidungsfindung. Eine Bundeswerktstatt als dritte Kammer neben Bundestag und Bundesrat würde mit dieser entscheidenen Schwachstelle aufräumen und die Demokratie in unser aller Macht stellen.

Die Studie Bundesrepublik 3.0 ist von Hanna Ehlert, Prof. Sonja Hörster und Jascha Rohr im Auftrag des Umweltbundesamtes und in enger Zusammenarbeit mit dem IASS in Potsdam, Mehr Demokratie e.V. und Verfassungsrechtler*innen der Hochschulen Osnabrück und Ludwigsburg verfasst worden. Das Beteiligungsformat einer “Bundeswerkstatt“ ist von Jascha Rohr entwickelt worden. Weitere Informationen finden sie hier.

Sonja Hörster ist Gründerin des Instituts für Partizipatives Gestalten (IPG) und Professorin für Partizipation in der Landschaftsarchitektur an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf und setzt sich für den Aufbau nachhaltiger Strukturen von Governance ein. Als Landschaftsarchitektin hat sie über 25 Jahre Erfahrung in der Konzeption und Durchführung kokreativer Planungsprozesse für Kommunen und zivilgesellschaftliche Organisationen. Sie ist überzeugt, dass gestaltungsorientierte Formen der Zusammenarbeit unter Einbeziehung aller Akteure zu stimmigen Lösungen führen, die räumlich, sozial und wirtschaftlich Sinn ergeben.