#Partizipationsdebatten

Demokratie braucht Protest, oder: das Glück liegt auf der Straße

von Raven Musialik 

Wichtige gesellschaftliche Fortschritte – ob das Wahlrecht für Frauen, der Atomausstieg oder die Anerkennung homosexueller Beziehungen und Lebensweisen –, all diese wurden nicht zuerst in den Parlamenten vorangetrieben. Sie wurden von Protestbewegungen auf die Agenda gehoben und mit hartnäckigen politischen Kämpfen durchgesetzt. An dieser Konstellation hat sich wenig geändert. Die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan konstatierte kürzlich, das Bündnis #unteilbar mache sichtbar, „dass die Zivilgesellschaft bei vielen Themen sehr viel weiter ist, als die Politik“. Einige Monate zuvor hatte Farhad Dilmaghani, Vorsitzender des Vereins DeutschPlus, in einem Gastbeitrag für den SPIEGEL in gleicher Weise darauf hingewiesen, dass Parteien zu langsam seien und soziale Bewegungen drängende Themen deutlicher aufgriffen: „Radikaler, aber auch realistischer.“ Allzu augenfällig gilt das für die Klimabewegung um Fridays for Future und Ende Gelände, die sich mit Vehemenz dafür einsetzen, dass sich das gesellschaftliche Wissen um den Klimawandel endlich in eine Politik übersetze. Schmerzhaft aktuell zeigt sich das auch in den Black-Lives-Matter-Protesten, die deutlich machen, dass viele Menschen die verleugnete Realität eines institutionellen Rassismus nicht länger hinnehmen.

Protestbewegungen sind offenbar der Motor progressiver Politik. Aber woher kommt dieser Vorsprung? Ziviler Protest zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass er sich aus drängenden Problemen heraus formiert und diese adressiert. Dagegen steht die institutionalisierte Politik mit beiden Beinen in ihrer Geschichte, wie Dilmaghani in Bezug auf Deutschland ausführt: „Seit Beginn der Bundesrepublik wurde das Land im Wesentlichen von CDU/CSU, SPD und FDP regiert. Für diese gewohnheitsmäßigen Hauptakteure gab es kaum Anreize, das System zu verändern.“ Dabei handelt es sich nicht nur um eine Pfadabhängigkeit. In diesem Strukturen lagern Interessen, gewohnte Privilegien oder einfach Routinen. Und nicht zuletzt wollen in diesem Milieu Karrieren gemacht werden. Hierarchien prägen die Arbeit und die Möglichkeiten der Mitsprache, Lobbyverbände haben starken Einfluss. Mitunter reicht der so weit, dass sie die sie betreffenden Gesetze gleich selbst (mit-)schreiben dürfen.

Der Rahmen institutioneller Politik ist also ein sehr vermachtetes Kräftefeld, kein anything goes. Das Neue, das Andere, das bislang Ausgeschlossene hat hier einen schweren Stand. Insofern sind Protestbewegungen zunächst einmal ein wichtiges Korrektiv für nicht per se demokratisch legitimierte Machtressourcen und nicht am Gemeinwohl orientierter Kräfte in und um die Parteien und den Staat.

Womöglich macht diese progressive Kraft den Aktivismus als politische Partizipationsform so attraktiv. Während die Mitgliedschaften in Parteien seit Jahrzehnten auf dem historischen Sinkflug sind, haben zivilgesellschaftliche Bewegungen Konjunktur und leisten so eine gesellschaftliche Einbindung. Die großen Parteien haben in den vergangenen 20 Jahren rund 30 Prozent ihrer Mitglieder verloren. Zugleich erleben wir das Aufblühen einer bunten Vielfalt an Straßenprotesten, in denen neue gesellschaftliche Gruppen sich selbst eine Stimme geben – wie im Falle der migrantischen Selbstorganisation in der Migrantifa, den Schulstreiks von Fridays for Future, der Mieter*innenbewegung in der Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen, oder der Kämpfe für die Rechte flüchtender Menschen in den Protesten von Seebrücke, der Fahrradvolksentscheide in vielen Städten, um nur einige zu erwähnen.

Nun könnte man dem entgegenhalten, dass Politik mehr ist, als Forderungen zu formulieren. In den Parlamenten müssten etliche Interessen und Abhängigkeiten abgewogen und austariert werden – das starke, langsame Bohren von dicken Brettern, als das Max Weber Politik charakterisiert hat. Natürlich, mag man sagen, propagieren Protestbewegungen die konsequenteren Lösungen für ihre Fragen, müssen sie sich doch nicht zugleich mit all den anderen Problemen herumschlagen. Dabei wird oft – Stichwort Identitätspolitik – die Fragmentierung der Bewegung in eine Vielzahl von  Gruppeninteressen kritisiert, die eine soziale Integration in eine gemeinsame Solidargemeinschaft auflöse, und damit die Neoliberalisierung der Politik höchstselbst ratifiziere.

Doch Proteste – und Identitätspolitik: siehe wiederum Black Lives Matter – bringen gerade die Interessen derer lautstark zu Gehör, die in dieser Gemeinschaft bislang schlicht keine adäquate Berücksichtigung erfahren und ausgeschlossen bleiben. Mitunter in einem ganz grundsätzlichen Sinne: Wie der Soziologe Stephan Lessenich in seinem aktuellen Buch über die Grenzen der Demokratie schreibt, kennt diese keineswegs nur den Streit um Lösungen. Allein die Teilhabe an der Demokratie selbst ist umkämpft. Das Stimmrecht ist ein Privileg, das stets bestimmten Gruppen verwehrt blieb: Zunächst Besitzlosen, bis ins 20. Jahrhundert den Frauen, und hierzulande noch heute allen Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Die parlamentarische Demokratie schließt damit 5,3 Mio. Menschen von der Mitsprache aus. Zudem bleibt es in den Protesten keineswegs bei Forderungen in eigener Sache. Auch hier sind die sozialen Bewegungen sehr viel weiter. Deutlich zu beobachten ist die solidarische Bezugnahme der Proteste untereinander, thematisch wie regional, in Europa und darüber hinaus. Der programmatische Anspruch von #unteilbar, die diversen Kämpfe nicht gegeneinander ausspielen zu lassen – nicht Sozialstaat gegen Migration, nicht Klima- gegen Klassenfragen –, bringt das auf den Punkt. Solidarität basiert so nicht mehr auf einer Gleichheit der sozialen Lage, des Glaubens oder der Herkunft, sondern als Verbindung in der Verschiedenheit der Proteste in gegenseitiger Bezugnahme, Bündnisarbeit und gemeinsamen politischen Kämpfen. Protestbewegungen sind daher auch Motor einer praktischen Solidarität, überhaupt ein Ort für eine gelebte plurale Gesellschaft.

Auch wenn Parteien und Proteste keine diametralen Gegensätze sind – das haut allein deshalb nicht hin, da viele Aktivist*innen zugleich in Parteien aktiv sind: Das Engagement in Protestbewegungen schafft eine Unmittelbarkeit des Anliegens wie der Erfahrung der Solidarität, die in Parteien vor lauter Vermittlung oftmals unter die Räder gerät. Daher bleiben Protestbewegungen Orte der Erfahrung und des Einspruchs, die für die Demokratie unersetzlich sind – und die Kraft, die gesellschaftlichen Fortschritt befördert.

Raven Musialik ist Redakteur des Magazins ‚was wäre wenn‘, das er mit einem journalistischen Team als ein Projekt der Initiative Offene Gesellschaft aufgebaut hat. Seit dem Sommer 2018 ist er ehrenamtlich für das zivilgesellschaftliche Bündnis #unteilbar aktiv.