Politik zum selber machen: Ein Beispiel für direkte Bürgerbeteiligung
von Christine Hübner.
Als sich eines Abends letzte Woche alle meine niederländischen Freunde und Kollegen vor dem Fernseher zusammenkuschelten – in großer Aufregung über die bevorstehende Abdankung ihrer Königin Beatrix zugunsten ihres Sohnes Prinz Willem-Alexander oder besser Prinz Pils – stand ich mit einer Mischung aus Erstaunen, Neugier, aber vor allem völligem Unverständnis dabei. Ich war neugierig darauf, zum ersten Mal live das Monarchie-Prozedere beobachten zu können. Zugleich war ich aber auch etwas bestürzt darüber, wie schnell meine sonst so erfinderischen und zugleich pragmatischen Niederländer ihre gesamte Aufmerksamkeit unsinnigen Diskussionen über das Alter ihrer Königin und die Unerfahrenheit ihres Sohnes zuwandten. Diese Perspektive schien mir merkwürdig altmodisch und wollte so gar nicht zum Bild meines Gastlandes passen.
Ein Bild, dass sich unter anderem durch Erfahrungen wie diese geprägt hat: Im November vergangenen Jahres staunte ich nicht schlecht, als ein Brief der Gemeinde Rotterdam ins Haus flatterte, in dem ich dazu eingeladen wurde, meine Meinung zur anstehenden Gebiets- und Verwaltungsreform zu äußern. Mit dem Ziel die Anzahl der administrativen Ebenen und der politischen Amtsträger zu reduzieren, hatte das niederländische Parlament beschlossen, in den Städten Amsterdam und Rotterdam künftig keine lokalen Stadtteilräte (deelgemeenteraden) mehr zu wählen. In Rotterdam sollte die Diskussion alternativer Wege der Stadtpolitik nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden. Stattdessen hatte man sich im Rathaus überlegt, die Alternativen für die Verwaltung von Rotterdam nach 2014 mithilfe der Rotterdamer selbst zu entwickeln. Und zwar mit so vielen von ihnen wie möglich.
Eine Vielzahl von Berührungspunkten ermutigte die Bürger, an der Debatte um die zukünftige Administration der Stadt teilzunehmen: Es wurden stadtweite Debatten und stadtteilrelevante Diskussionsforen angeboten. Bürger wurden auch über Institutionen wie Wohnungskooperativen, Mietervereinigungen, Kirchenkreise und sogar Sportvereine gebeten, Feedback und Anregungen aus ihrer Sicht zu geben. Dieser iterative Prozess und die Entwicklung von Lösungsansätzen wurden von einem Forschungsprojekt mit einer Stichprobe von rund 3.300 Bürgern begleitet. Zuletzt wurden alle wahlberechtigten Bürger der Stadt zur Abstimmung über zwei erarbeitete Alternativen gebeten — insgesamt mehr als 500.000 Menschen.
Der offizielle Bericht über das Projekt bringt berechtigte Kritik vor, sowohl an den beiden letzten Endes zur Debatte stehenden Lösungsvorschlägen als auch am Prozess selbst. Lokale Medien beanstandeten, dass die Diskussion der vorgeschlagenen Modelle mit einer Dauer von etwa 12 Monaten viel Zeit und Mühe in Anspruch genommen hatte und im Gegenzug dazu zu wenige Bürger involviert waren: von den ca. 500.000 zur Teilnahme eingeladen Bürgern der Stadt, stimmten etwa 25.000 Menschen online über die Lösungsvorschläge ab. Zusammengenommen mit weiteren 4.500 Bürgerinnen und Bürgern, die qualitative Anregungen gegeben hatten, und den insgesamt etwa 650 Besuchern der öffentlichen Debatten, waren etwa 30.000 Menschen aktiv beteiligt — nur magere 6% der Bevölkerung. Der Bericht gibt keine Auskunft über die genaue Verteilung der Beteiligten über demographische Gruppen hinweg. Die Wahlbeteiligung nach Stadtteilen aber zeigt, dass Bewohner der wohlhabenden Quartiere und der am stärksten von der Reform betroffenen Außenbezirke sehr wahrscheinlich überrepräsentiert waren. Bürger der überwiegend von Migranten und Niederländern der zweiten Generation bewohnten Stadtteile waren in geringerem Ausmaß beteiligt.
Zweifellos muss diese Kritik dringend in Betracht gezogen werden, sollte es zu einer Wiederauflage des Projekts kommen. Vor allem die Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen muss gewährleistet sein. Die Bürger müssen sowohl informiert sein als auch die Fähigkeiten besitzen, sich zu beteiligen. Dennoch, sowohl als Bürgerin und als auch als überzeugte Demokratin bin ich vom Grundbestreben dieser Initiative überzeugt, aus zwei Gründen:
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Erstens ist es immer besser, den Versuch zu unternehmen, Bürger aktiv einzubinden, als Entscheidungen ohne Mitwirkung zu treffen. Ja, ein solcher Beteiligungsprozess braucht Zeit, aber das liegt auch in der Sache der Demokratie an und für sich. Dieses Projekt hat vielleicht nur 6% der Bevölkerung erreicht; andersherum gesehen haben aber mehr als 30.000 Menschen die Chance gehabt, ihre Meinung zu äußern, die dies sonst sicher nicht getan hätten. Es gibt kein anderes Beispiel für einen öffentlich ausgeführten Beratungsprozess in den Niederlanden, der eine so große Zahl von Bürgern aktiv beteiligt hat.
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Zweitens — und dies ist das möglicherweise am stärksten unterschätzte Argument in dieser Debatte – können sich in so einem konsultativen Prozess alle Bürger zumindest einbezogen fühlen. Auch wenn ich nicht aktiv an den Debatten teilgenommen habe, so haben mir doch allein die omnipräsente Kommunikationskampagne, der Brief in meinem Briefkasten, und die bloße Möglichkeit, mich einzubringen, das Gefühl vermittelt, Teil des Entscheidungsprozesses zu sein. Dieses Projekt ist ein gutes Beispiel für das, was jeder CEO unter dem Begriff ‚stakeholder-buy-in‘ kennt: Bürger werden sich mit einer Entscheidung, die mit ihrer direkten Beteiligung getroffen wurde, viel eher identifizieren als mit jeder anderen. Dafür bedarf es keiner Referenda, sondern es hilft schon ein Fragen um die Meinung. Für eine Stadt, die so viele verschiedene Nationalitäten, kulturelle und soziale Hintergründe zusammenbringt wie Rotterdam, kann ein solcher Beteiligungsprozess genau das sein, was die Voraussetzung für ein friedliches Miteinander schafft.
Einer der Gründe, warum dieser direkte Beteiligungsprozess zuerst in den Niederlanden ausprobiert wird, könnte an der niederländischen Tradition des Poldermodels liegen: ein politischer Stil, in dem stets der Konsens angestrebt wird. In meiner Assoziation des Königshauses mit dem zutiefst Altmodischen hatte ich übersehen, welchen Einfluss die niederländischen Königin auf den Zustand der Demokratie in meinem Gastland hat: Beatrix selbst legt eben diesen Führungsstil des Kompromisses an den Tag und bringt Parteien zusammen, statt politische Gegensätze weiter auseinander zu treiben. Zusammen sitzen, Dinge gemeinsam besprechen und — im Zweifelsfall — neue Wege zu finden, um Probleme zu lösen, halte ich inzwischen für etwas grundlegend Niederländisches. Und etwas, was ich in der Zukunft gern öfter und in ganz Europa angewandt sehen würde.
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Christine Hübner ist Partnerin bei d|part.
Disclaimer
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten und Meinungen entsprechen denen der Autorin.