Pragmatischer Fatalismus: Wie Wahllisten die Konkurrenz im Wahlkampf beeinträchtigen – eine theoretische Annäherung
Von Götz Harald Frommholz.
Die letzten beiden großen Wahlen für den Bundestag 2013 und das Europaparlament 2014 haben gezeigt, dass Parteien deutliche Schwächen — besonders bezogen ihren Onlinewahlkampf — offenbaren. Während das verpasste Potential der Nutzung des Internets für den Wahlkampf bereits öfters ausgiebig diskutiert wurde, möchte ich mich in diesem Beitrag einer weniger häufig beachteten Beobachtung widmen, die durchaus einer theoretischen Beleuchtung bedarf: Der Effekt von Wahllisten auf das Konkurrenzverhalten von Kandidatinnen und Kandidaten. Das Thema habe ich in dieser Form zuerst in meinem Gastbeitrag für das Bürgernetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) grob angerissen.[1]
Bundestagswahl 2013: Der pragmatische Fatalismus
Christine Hübner und ich haben während unserer Bundestagswahlstudie den Begriff des „pragmatischen Fatalismus“ aufgebracht (Frommholz und Hübner 2013). Dabei handelt es sich um die Beobachtung, dass das persönliche Zeit- und Finanzinvestment von Politikerinnen und Politikern in den eigenen Wahlkampf von den Erfolgschancen abhängt, einen Wahlkreis direkt zu gewinnen. Diese Analyse lässt sich durch einen zusätzlichen Aspekt erweitern: Wir konnten auch beobachten, dass Personen, die auf Listen abgesichert waren, wesentlich weniger Aufwand für ihren Onlinewahlkampf betrieben als Direktkandidaten ohne Listenabsicherung. Das wurde besonders am Beispiel der Kandidatinnen und Kandidaten der Partei DIE LINKE deutlich: „Während im Westen Deutschlands, wo die meisten Kandidaten der Partei über Landeslisten in den Bundestag einziehen, wenige LINKE-Kandidaten eine eigene, aktuelle Webseite vorweisen konnten, überzeugten Mandatsbewerber in den neuen Bundesländern mit sehr persönlichen und detaillierten Webseiten, die einen guten Überblick über den Kandidaten und die politischen Ziele boten. Dort sind ebenfalls die Chancen auf ein Direktmandat größer. Diese Relation zur Chance auf ein Direktmandat erklärt auch mit, warum SPD- und Unionskandidaten deutlich mehr in ihren Internetauftritt investieren als Kandidaten von FDP, Grünen, der LINKEN oder kleineren Parteien […]“ (ebd., 12). Daran wird deutlich, dass Politikerinnen und Politiker das besondere Potenzial des Internets zum Bootstrapping-Wahlkampf und zur Wählermobilisation in sonst weniger gut erreichbaren Randgruppen unterschätzen. Sie lassen sich nicht darauf ein, dass das Internet evtl. besondere Vorteile im Wahlkampf bieten kann, die andere Kanäle aufgrund des nötigen Investments nicht bieten können (vgl. Voss 2014; Vowe 2014).
Europawahl 2014: Beobachtung bestätigt
Sicherlich können die Beobachtungen zur Bundestagswahl 2013 ein Einzelfall oder pure Spekulation sein. Nach der Analyse der Europawahl 2014 gibt es jedoch genug Daten, die Indikatoren dafür liefern, dass die These des pragmatischen Fatalismus durchaus legitim ist. Die Europawahlen sind dieses Jahr etwas Besonderes gewesen: Es gab zum ersten Mal europaweite Spitzenkandidaten für die Parteien, die Sperrklausel in Deutschland fiel erstmals weg und es fanden vielerorts zeitgleich Kommunalwahlen statt. Alles durchaus interessante Faktoren, welche die Wählermobilisierung im Gegensatz zu vorherigen Wahlen positiv beeinflussen könnten.[2] Wie der Wahlausgang gezeigt hat, blieben diese positiven Effekte weitestgehend jedoch aus. Auch der Onlinewahlkampf hatte wohl generell eher wenig bis gar nichts mit der Wählermobilisierung zutun. Noch frappierender als zur Bundestagswahl 2013 wurde deutlich, dass den Kandidatinnen und Kandidaten entweder die Expertise oder die Ressourcen fehlen und somit das Gros der Internetauftritte — gelinde gesagt — unter dem Möglichen in ihrer Qualität lagen.[3]
Das Problem der Listen: fehlende Konkurrenz
Vielleicht liegt dieses tatsächlich an den besonderen Rahmenbedingungen der Europawahl in Deutschland. Denn es werden ausschließlich Listen und keine Direktmandate gewählt. Der offensichtliche Grund für diese Situation scheint das Fehlen direkter Konkurrenz unter den Kandidatinnen und Kandidaten zu sein. Der normale politische Wahlkampf lebt davon, als Kandidat den eigenen Wahlkreis gewinnen zu müssen, um direkt in ein Parlament einzuziehen. Das kennen wir auf der Kommunal‑, Landes- und Bundesebene. Dieses Erlebnis und die damit entsprechenden Erwartungshaltungen werden durch das reine Listensystem aufgehoben. Denn hier geht es um die Prozente, die die Parteien nach der Wahl für sich beanspruchen können. Der Prozentsatz gibt vor, wie viele Personen einer Partei in die Volksrepräsentanz einziehen. Die Liste bestimmt die Reihenfolge und Priorität der Kandidatinnen und Kandidaten. Somit wird die Motivation des Einzelnen zum Wahlkampf maßgeblich verändert. Denn während man durch den direkten Wahlkreis trotz schlechter Prognosen theoretisch immer die Möglichkeit hat, diesen durch persönliches Engagement zu gewinnen, bleibt diese Aussicht bei einer auf Listen basierenden Wahl aus. Dementsprechend gering ist das Investment der kandidierenden Personen. Das kann zum Teil die strukturellen Defizite erklären, welche die Onlinewahlkämpfe vieler Kandidaten bei der Bundestagswahl 2013 und der Europawahl 2014 aufzeigten. Politikerinnen und Politiker waren nicht motiviert, online einen kontinuierlichen Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern aufzubauen (vgl. Elter 2013).
Listen gewähren auch zu große Sicherheit
Dasselbe lässt sich auch in die andere Richtung theoretisieren. Hierfür ziehe ich gerne wieder die Beobachtungen zur Europawahl hinzu. Nach der Wahl habe ich alle Internetpräsenzen der 96 gewählten deutschen Mitglieder des Europaparlaments (MdEP) analysiert. Dabei viel auf, dass die wiedergewählten MdEP im Vergleich zu den Mitgliedern des Bundestags (MdB) weniger in ihren Internetauftritt investierten. Auch das kann mit der hier vorgestellten These begründet werden: Die nicht vorhandene direkte Konkurrenz scheint auch das Kalkül von vermeintlich sicheren Listenplatzierten zu beinträchtigen. Denn der Einzug in das Parlament für die oberen Plätze der Liste gilt bei vielen Parteien wahlstatistisch gesehen als sicher. Somit müssen sich einige Kandidatinnen und Kandidaten auch nicht wirklich für das Amt eines MdEP bewerben. Das wurde nicht nur anhand der schlechten Internetseiten deutlich; auch die unprofessionelle Betreuung der Konten in den sozialen Netzwerken fiel im besonderen Maße auf. Die Grünen sind diesbezüglich die einzige Ausnahme. Videos, „Tweets“ und „Posts“ waren teilweise Wochen oder Monate alt. Einige MdEP waren zu Zeiten des Wahlkampfs komplett inaktiv. Das ist paradox. Die letzten vier Wochen repräsentieren die wichtigste Phase für die Wählermobilisierung und das Internet wird hierfür immer wichtiger (vgl. Ertelt 2012; Gerbaudo 2012; Loader et al. 2014). Es ist vor allem auch interessant, wenn man die Wiedergewählten mit den Neuparlamentariern vergleicht. Die letzteren bilden so etwas wie eine Kontrollgruppe für die „Alt-MdEP“. Denn diese waren im Schnitt professioneller im Internet präsent. Es scheint also eine andere Motivation vorzuliegen, wenn man neu im Parlament ist. Vielleicht ist die Passivität der Wiedergewählten durch die Verlässlichkeit der Liste beeinflusst. Denn der Einzug in das Parlament scheint sicher und dementsprechend wird weniger Aufwand betrieben.
Schlussbemerkungen
Die hier vorgestellten Überlegungen zeigen einen kritischen Aspekt des politischen Systems. Dort scheint es tatsächlich um die effiziente Reproduktion von Macht zu gehen (vgl. Luhmann 2002).[4] Der zu beobachtende Pragmatismus könnte eine logische Konsequenz dieses Prozesses sein. Denn: er funktioniert! Kandidatinnen und Kandidaten mit schlechten Aussichten auf einen Wahlerfolg investieren wenig. Politikerinnen und Politiker mit guten Perspektiven auf ein Mandat investieren mehr. Die Wahllisten sind wohl für ein Abschwächen des Konkurrenzverhaltens verantwortlich und mindern einen großen Teil der Ungewissheit und der Spannung in Wahlkämpfen. Das kann zu einem geringen Investment von sowohl Schlechtplatzierten als auch Gutplatzierten führen. Diese Situation ist meines Erachtens eine erschreckende Bilanz für das demokratische Bewusstsein in Wahlkämpfen. Wenn Wahllisten tatsächlich dazu führen, dass Politikerinnen und Politiker in ihrem Konkurrenzverhalten beeinflusst sind, dann müssen wir in Deutschland darüber nachdenken, ob dieses Wahlsystem für unsere Demokratie förderlich ist. Es sollte sich kein Politiker/keine Politikerin in seiner/ihrer Position „sicher“ fühlen. Denn das kann zum Erodieren unseres Systems von „Checks & Balances“ führen, das von Bürgerinnen und Bürgern durch Wahlen gewährleistet wird.
Zurzeit handelt es sich bei dem pragmatischen Fatalismus um einen theoretischen Ansatz, der versucht, das unterschiedliche Wahlkampfverhalten von Politikerinnen und Politikern zu erklären. Zur Bestätigung oder Wiederlegung dieser These benötigt es repräsentativer Studien. Ich würde mich freuen, wenn die Überlegungen dieses Blogs aufgegriffen und in weitere Studien umgesetzt werden. Bei d|part werden wir dieses Thema jedenfalls zukünftig weiter besetzen.
Literatur
Elter, Andreas, 2013: Interaktion und Dialog? Eine quantitative Inhaltsanalyse der Aktivitäten deutscher Parteien bei Twitter und Facebook während der Landtagswahlkämpfe 2011. Publizistik 58: S. 201–220.
Ertelt, Jürgen, 2012: Mehr Beteiligung realisieren durch digitale Medien und Internet. Sozial Extra 36: S. 47–50.
Frommholz, Götz Harald, und Christine Hübner, 2013: Wahlkampf im Internet: Wie Kandidaten das Netz nutzen — Eine Studie zur Internetpräsenz der Direktkandidaten zur Bundestagswahl 2013. Berlin: d|part.
Gerbaudo, Paolo, 2012: Tweets and the Streets: Social Media and Contemporary Activism. London: Pluto Press.
Loader, Brian D., Ariadne Vromen und Michael A. Xenos, 2014: The networked young citizen: social media, political participation and civic engagement. Information, Communication & Society 17: S. 143–150.
Luhmann, Niklas, 2002: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Voss, Kathrin, 2014: Internet & Partizipation – Einleitung. S. 9–23 in: Voss, Kathrin (Hg.), Internet und Partizipation. Bürgergesellschaft und Demokratie. Springer Fachmedien Wiesbaden.
Vowe, Gerhard, 2014: Digital Citizens und Schweigende Mehrheit: Wie verändert sich die politische Beteiligung der Bürger durch das Internet? Ergebnisse einer kommunikationswissenschaftlichen Langzeitstudie. S. 25–52 in: Voss, Kathrin (Hg.), Internet und Partizipation. Bürgergesellschaft und Demokratie. Springer Fachmedien Wiesbaden.
[1]http://www.b‑b-e.de/fileadmin/inhalte/aktuelles/2014/06/enl%206_Gastbeitrag_Frommholz.pdf
[3]http://www.hamburger-wahlbeobachter.de/2014/06/der-europawahlkampf-im-netz-veraltete.html
[4]http://dpartblog.wordpress.com/2012/10/21/logik-der-macht/
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Dr. Götz Harald Frommholz ist Mitgründer von d|part und leitet den Think Tank als Managing Director. Dazu arbeitet er als Policy Analyst beim Open Society European Policy Institute (OSEPI) und leitet die politische Anwaltschaft der Open Society Foundations (OSF) in Deutschland. Er hat in Bielefeld Soziologie studiert und promovierte im selben Fach an der University of Edinburgh. Darüber hinaus ist er als Dozent für diverse Hochschule und Stiftungen tätig.
Disclaimer
Die in diesem Artikel dargelegten Ansichten und Meinungen entsprechen denen des Autors.