Wer ist der echte Snob?
Reflektionen zu deutschen Kommentaren zum geplanten EU Referendum in Großbritannien — von Jan Eichhorn.
Oft verlangen wir, dass Politiker stärker auf die Sichtweisen der Wählerschaft hören – um ihre Position auch zwischen den Wahlen anzupassen, als Zeichen ihrer Wahrnehmung der Interessen der Bevölkerung. Doch manchmal, so scheint es, sollten wir vorsichtig darin sein, was wir uns wünschen.
David Cameron, Premierminister des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland (UK), kündigte vor Kurzem in einer lange erwarteten Rede an, dass die UK-Bürger 2017 die Möglichkeit haben werden in einem Referendum zu entscheiden, ob sie Teil der Europäischen Union bleiben wollen oder nicht. Zahlreiche Spekulationen und Analysen sind seitdem präsentiert worden; es ist offensichtlich, dass es sich um ein komplexes Thema handelt und dass zahlreiche Motivationen eine Rolle spielen. Cameron musste auf eine starke Gruppe von Europa-Skeptikern in seiner eigenen Partei reagieren und hat zugleich seine Hoffnung ausgedrückt, dass ein Referendum einige der langanhaltenden Grundsatzdebatten zu diesem Thema im Land klären kann. Er schlägt vor, das Referendum nach einer tiefgreifenden Reform der EU durchzuführen, in der bestimmte Verantwortlichkeiten wieder an die Mitgliedsländer zurückgeführt würden.
Für einen Deutschen, der in Großbritannien wohnt (wie mich) oder der generell an britischer Politik interessiert ist, scheinen diese Nachrichten in gewohnte Formen zu passen: Die Briten wollen mal wieder ihren eigenen Weg gehen und sich die Rosinen herauspicken. Die britische Regierung versteht den Kontinent nicht wirklich und kümmert sich auch nicht wirklich darum, denn ihre Interessen sind rein ökonomisch. Viele Deutsche stehen wohl zudem einem konservativen Premier generell eher skeptisch gegenüber – wahrscheinlich flackern bei so manchem noch Bilder von Margaret Thatcher vor dem inneren Auge auf. Wir sind eventuell auch ungehalten über die britische Position, nicht an „unseren“ großartigen Plänen zur Bankenreform mitzumachen – wieder einmal sind die Briten diejenigen, die alles in der EU blockieren, was wir als den einzig richtigen Weg vorwärts ansehen.
Selbst wenn einige dieser Bilder sich bei weiterer Ergründung des Themas als korrekt erweisen (während andere einen größeren Grad an Komplexität aufzeigen – teils vermischt mit einem Grad an deutscher narzisstischer Selbstgerechtigkeit), so ist die Tönung doch eindeutig – und größtenteils in den Kommentaren deutscher Medien wiedergegeben. Während wir zustimmen, dass die EU einige Reformen braucht, blockiert die britische Regierung die Echten. Was sie wollen dient nur ihnen selbst und nicht einer wirklich funktionierenden Europäischen Union. Und wir fügen oft schnell hinzu, dass das auch nicht überraschend sei angesichts der neugierigen Belustigung, die wir genießen, wenn wir über britische Politik nachdenken — mit ihrem Aristokraten-gefüllten House of Lords (was heutzutage nur noch teilweise stimmt) und Politikern, die einem merkwürdigen Debattierstil führen, den sie an ihren Elite-Universitäten erlernt haben müssen.
Während es viele valide und wichtige Meinungsunterschiede aus der Perspektive eines Landes wie Deutschland in Bezug auf den britischen Umgang mit der EU gibt, sollten wir einen Fehler unbedingt vermeiden: Unsere intuitiven Assoziationen britischer Politik suggerieren zu lassen, dass wir es nur mit den Postitionen einer kleinen politischen Oxford- und Cambridge-Elite zu tun haben. Das Gegenteil ist der Fall: Viele Umfragen in Großbritannien haben erschöpfend demonstriert, wie kritisch die UK-Bürger der Europäischen Union gegenüber stehen und wie viele sie lieber verlassen würden (oft eine Mehrheit oder zumindest eine sehr umfangreiche Minderheit). Dieses Einstellung finden wir nicht nur in einigen Regionen oder Klassen – EU-Skeptiker existieren im gesamten sozio-ökonomischen Spektrum (natürlich mit einiger Variation) und in allen Teilen des Vereinigten Königreichs.
Natürlich wäre es übersimplifizierend zu argumentieren, dass Elitendiskurse öffentliche Einstellungen nicht beeinflussen. Aber wenn wir die britische Postition in EU-Verhandlungen verstehen wollen, werden wir nicht weit kommen, wenn wir uns nur auf Kommentare zu den historischen Entscheidungen und Strategien britischer Premiers und oberflächliche Beobachtungen britischer Politik verlassen. Politiker, die (wieder-)gewählt werden wollen, müssen Öffentlichkeiten überzeugen. Selbst wenn Themen und Motivationen insgesamt komplexer sind, wie in diesem Fall für David Cameron, ist es schwer zu leugnen, dass das Angebot eines „drinnen-oder-draußen“ Referendums eine Reaktion auf die Sichtweisen und Stimmen der (oder zumindest eines sehr großen Teils der) Öffentlichkeit darstellt. Unabhängig davon, ob wir mit der Herangehensweise und den Positionen des Vereinigten Königreichs übereinstimmen oder nicht, wird dieser Schritt von Bürgern, die eine Entscheidung zur britischen Position zur EU treffen wollen, willkommen geheißen werden. Im Vorfeld von Unterhauswahlen 2015, die für die jetzige Regierung schwierig werden könnten im Angesicht von massiven Ausgabenkürzungen und wiederholten Abschnitten von nur geringem oder gar negativem Wirtschaftswachstum, könnte dies ein Thema sein, das Stimmen gewinnt.
Das führt zu einer abschließenden Beobachtung: 2017 ist in vier Jahren – eine sehr lange Zeit in der Politik. Wie viele Kommentatoren in Großbritannien angemerkt haben, ist es nicht sicher, ob das Referendum auch tatsächlich stattfinden wird. Falls die Konservativen die nächste Wahl nicht mit absoluter Mehrheit gewinnen wird es eher unwahrscheinlich. Viele andere Faktoren spielen außerdem noch eine wichtige Rolle, unter anderem inwieweit David Cameron es schafft, die Verhandlungen über die Zukunft der EU in den nächsten Jahren nach seinen Vorstellungen zu prägen. Es wird wesentlich schwieriger, so wertend über die britische Regierung zu urteilen, wenn man in Betracht zieht, dass sie vor allem aus dem Interesse agiert, ihre EU-Positionen zu nutzen, um Beliebtheit vor Wahlen zu erlangen und dabei von nationalen Problemen abzulenken. Deutsche Leser fühlen sich vielleicht an die Herangehensweise einer bestimmten Kanzlerin erinnert – und auch daran, wie oft Versprechen zu der Position eines Landes in Bezug auf EU-Entscheidungen etwas „abgemildert“ wurden – nach relevanten Wahlen.