#Partizipationsdebatten

Die Digitalisierung ändert die Regeln der Demokratie! — wie gehen wir damit um?

von Luidger Dienel, Jonas Kunz, Max Senges 

Es ist schon seit Churchill bekannt, dass die repräsentative Demokratie eine schlechte Governance Form darstellt – ihr Vorteil es aber ist, das alle anderen Varianten noch problematischer sind. Nun hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Komplexität der Entscheidungsräume durch globale Einflussfaktoren und speziell durch die real-time Parallelität des sozio-technologisch hoch-komplexen Onlineraums exponentiell erhöht. Auch die Globalisierung hat zu einer massiv gewachsenen Diversität der Lebenswelten geführt, welche die Inklusivität — also die Einbeziehung aller Perspektiven, mit dem Ziel eine gemeinsame Lösung, oder wenigstens einen von allen getragenen Kompromiss zu finden — extrem erschwert hat. Die Herausforderungen sind für eine demokratisch-repräsentativ verfasste Gesellschaft also stark gewachsen. Und dabei sind die Auswirkungen der Digitalisierung noch gar nicht berücksichtigt. Denn mit dieser gehen auch demokratie-zersetzende Phänomene einher, von denen zwei im Ausgangspunkt des Artikels näher beleuchtet werden sollen.

So verhindert, erstens, die hauptsächliche Orientierung von politischer Strategie an Meinungsumfragen die Entwicklung einer stringenten Programmatik und führt im Gegenteil zu in sich inkonsistenten Wähler-manipulierenden Wahlkämpfen, wie es sich zum Beispiel im Fall von Trump zeigt. Wissenschaftler wie Larry Lessig untersuchen und mahnen seit Jahren, dass Meinungsumfragen in der Politik nicht mehr dafür genutzt werden, die Formulierungen von Wahlbotschaften zu optimieren, sondern die Wahlversprechen selbst zu definieren (Siehe z.b. sein TED Talk in Berlin 2017).  

Zweitens führt die kurzlebige Aufmerksamkeitsökonomie de facto zu politischer Effekthascherei, Skandalpolitik und Polarisierung. Diese Feststellung ist bei weitem nicht neu. Herbert Simon stellte bereits 1971 fest, dass in einer informationsreichen Umgebung (und zu diesem Zeitpunkt war von einer Medienlandschaft mit vielen hundert Fernsehsendern sowie dem Internet noch gar nicht die Rede) die Aufmerksamkeit eine knappe Ressource der Menschen wird. Aber erst nachdem Sunstein und Thaler 2017 den Nobelpreis für ihre Forschung zu praktischen Methoden der Verhaltensmanipulation bekamen, war es nur noch ein kleiner Schritt, bis gewitzte Berater eine neue Form des auf datenbasierten und auf individuelle Nutzer optimierten Wahlkampfes entwickelten. Die Spielregeln der Demokratie haben sich also weitgehend geändert, das erkennt man auch beim Blick auf den von Präsident Trump geplanten Wahlkampf für Ende diesen Jahres.

Denn vorbereitet wird eine datengetriebene Kampagne, Kostenpunkt eine Milliarde Dollar, die individuelle Datenpunkte zur politischen Meinung von über 200 Millionen Amerikanern direkt mit 1.6 Millionen Volontären verbindet. Diese politisch engagierten Freiwilligen laufen von Tür zur Tür, um Wähler zu überzeugen, Trump zu wählen. Dabei folgen sie einem einzigartigen, innovativen und datengetriebenen Protokoll. Die Datenpunkte erlauben es der Kampagne, die Volontäre genau über das Meinungsprofil jedes potentiellen Wählers vorab zu informieren. Folglich sprechen die Volontäre individuell ausgewählte “Talking-Points” des Präsidenten an. (mehr @ The Atlantic) Anhand der Nutzung von ausgewählter, vorselektierter Information wird also das Ziel verfolgt, den eigenen Kandidat fast immer in das für den angesprochenen Wähler “richtige” Licht zu rücken. Und das gelingt ohne große Probleme, obwohl das “richtige“ Licht für jeden Wähler stets unterschiedlich ausfällt, weil den Volontären jeweils die passend vorselektierten Informationen zur Verfügung stehen; bis zu 5000 Datenpunkten für jeden potentiellen Wähler. 

Der bevorstehende Wahlkampf 2020 in den USA wird ohne Frage noch deutlich mehr datengetrieben sein als der vergangene 2016. Und diese Tendenz wird sich nicht nur auf die USA beschränken. Die Auswirkungen, etwa dass ein öffentlicher Diskurs zu den Herausforderungen einer Legislaturperiode weniger öffentlich und vermehrt dezentral geführt wird, werden wir auch in Europa zu spüren bekommen. Anstatt mit einem klassischen Wahlprogramm um die öffentliche Meinung zu werben, werden die Argumente des Wahlprogramms individuell auf die Wähler zugeschnitten. Das bedeutet, dass sich die Kommunikation politischer Themen vermehrt an individuellen Datenpunkten orientieren wird, die auf dem online Verhalten der Menschen basieren. Dadurch gerät die demokratische Teilnahme in Abhängigkeit vom Digitalen. 

Spätestens hier wird die Notwendigkeit evident, das wir uns die Frage stellen müssen, wie politische Teilhabe digital funktionieren sollte. Die Verschiebung des demokratischen Handlungsraums ist eine Sache, aber was passiert in diesem Zuge eigentlich mit dem Inhalt dieses Austausches? Trumps Wahlkampf-Kampagne wurde in der deutschen und internationalen Presse als “desinformativ” beschrieben. Dabei sind gezielte Informationen noch nicht per se falsch. Sie können aber irreführend wirken — und das auch gewollt. Das ist dann desinformativ. 

Aber nicht nur im Wahlkampf werden Informationen gezielt (oder irreführend) eingesetzt. Auch im öffentlichen Diskurs nehmen im Allgemeinen bewusst manipulativ eingesetzte Fehlinformationen oder sogar Falschinformationen stetig zu.  Die Wikipedia Seite zur Sammlung von “misinformation” zur Erkrankung Covid-19 wächst rasant und die Vielzahl der verschiedenen Fehlinformationen auch. Plattformen wie YouTube oder Twitter stehen vor dem Dilemma, einerseits nicht den Wahrheitsgehalt von Informationen prüfen zu können und andererseits keine normativen Entscheidungen treffen zu wollen, die sich im Graubereich zwischen freier Meinungsäußerung und Misinformation befinden.  

Die bereits beschriebene, kontinuierlich steigende Komplexität der Sachverhalte begünstigt die irreführende Informationsverbreitung zudem, denn gerade komplexe Themen sind oft schwer in ihrer ganzen Breite zu bewerten. Daher bräuchten wir EINEN öffentlichen Diskurs (medienübergreifend und am besten international), um Sachverhalte zu verhandeln. Wenn allerdings wieder ein Großteil der Diskussion dezentral und ohne semantische Interoperabilität stattfindet, verschwimmt der Diskurs und wird sogar lokal beschränkt (z.b. NetzDG). Auch hier bemerken wir eine Veränderung im demokratischen Miteinander.

Es wird also offensichtlich: Die Digitalisierung ändert nicht nur den politischen Handlungsbereich (wie z.B. auf den sozialen Plattformen), sondern sie ist auch selber Teil politischer Handlungen (NetzDG). Wie Handlungsbereich und Handlung ineinander greifen und besonders, wie sich der politische Handlungsbereich dadurch verändert, das möchten wir in unserem Governance Lab @ Google Berlin vorstellen, hinterfragen, diskutieren und bewerten. 

Dazu haben wir in Berlin ein Gesellschafts-Labor ins Leben gerufen. Das GovLab bringt unterschiedlichste Stakeholder zusammen, um gemeinsam über sozio-technologische Chancen und Risiken unserer Zeit zu deliberieren. Beispielsweise die Frage: Wenn der Grundstoff der demokratischen Konsens-Bildung — der Austausch von Meinungen — online zu Dissonanz qua Notwendigkeit führt, müssen sich dann nicht auch die Regeln der Demokratie online ändern? 

Es gibt viele Antworten auf diese Frage und wir experimentieren weiter, um möglichst aufgeklärte und produktive Formate zu entwickeln. Wichtig erscheint uns dabei auch die Vorgehensweise. Als Erstes schaffen wir einen Raum, in dem solche Fragen offen und lösungsorientiert zwischen Bürgern, die beruflich in der Forschung, der Privatwirtschaft sowie in staatlichen und zivilgesellschaftlichen Institutionen verwurzelt sind, erörtert werden können. Die persönlichen Hintergründe der Teilnehmer sind irrelevant. Nur die Aussage zählt! Entsprechend unserer House Rules hören wir einander zu, lassen uns ausreden und behandeln uns respektvoll. 

Es gilt im Kleinen (im Gov Lab) wie für unsere Demokratie als Ganzes: Geben wir uns Mühe die richtigen (schwierigen) Fragen zu stellen und gemeinsam die vernünftigsten Antworten zu finden. Mithilfe von innovativen Technologien, reformierten Institutionen, die es uns erlauben, die vernünftigsten Ideen gemeinsam zu entwickeln und kooperativ umzusetzen, und einer demokratischen Verfahrensweise kann es uns also gelingen, die Vorteile der Digitalisierung für die gesamte Gesellschaft nutzbar zu machen.

Hans-Liudger Dienel ist ordentlicher Professor für Arbeit, Technik und Partizipation an der Technischen Universität Berlin sowie geschäftsführender Direktor des nexus-Instituts für Kooperationsmanagement, einem in Berlin ansässigen Think Tank für partizipative Prozesse. Als STS (science-technology-and-society) und Demokratieforscher ist er zudem Chefredakteur der Zeitschrift “Innovation. European Journal of Social Science Research” (Routledge) und ein produktiver Autor und Politikberater für demokratische Entscheidungsfindung. Bis zum Jahr 2013 war er als Direktor des Center für Technologie und Gesellschaft an der TU Berlin sowie zuvor als Post-Doc am Deutschen Museum in München gewesen. Als Gastprofessor war er u.a. an der UC Berkeley, TU Wien und am Indischen Institut für angewandte Studien in Shimla (Himalaya).

Max Senges (Doktor der Philosophie und Master in Business Systems) arbeitet als Leiter für Public Affairs, Forschungspartnerschaften und Internet Governance für Google in Berlin. Während seines Aufenthalts in Kalifornien (2014–2018) arbeitete er als Program Manager für Google Research, wo er Googles IoT R&D Expedition aufbaute und leitete (in Partnerschaft mit z.B. Carnegie Mellon, Cornell Tech und Stanford). Später wurde er Leiter des Hardware-Nutzerforschungsteams von Google. Seit mehr als 10 Jahren arbeitet Max für und mit Vint Cerf an der Internetverwaltung und ‑interoperabilität und offenen Standards.

Jonas Kunz ist u.a. Mitbegründer des B.I.R.D.S. Projekt, am Hannah Arendt Center, NY, Konzept Lead des GovLabs @GoogleBerlin und setzt sich für „Sortition“ ein. Unter Sortition versteht man die zufällige Auswahl politischer Repräsentanten. In gewisser Weise erhebt dieser Auswahlprozess den einfachen Bürger auf eine öffentliche Plattform. Im antiken Athen, Florenz und Venedig war und ist dies das einzige Auswahlverfahren, bei dem alle gleichermaßen diskriminiert werden. Sortition wird in Prozessen wie dem Verfassungskonvent und der Bürgerversammlung in Irland, dem Bürgerrat in Deutschland, der Arbeit von MASS LBP in Kanada, den dänischen Konsensuskonferenzen und vielen anderen wiederbelebt.