#Partizipationsdebatten

Die Zukunft politischer Beteiligung: Digital allein reicht nicht!

von Magali Mohr

Durch die Corona-Krise scheint plötzlich vieles möglich, was lange als undenkbar galt. Die Pateiarbeit wurde in den digitalen Raum verschoben, sogar Parteitage finden nun online statt. Selbst Fridays for Future demonstrierte digital. Nicht nur die Digitalisierbarkeit unserer Leben, sondern auch die unserer repräsentativen Demokratie wird damit auf die Probe gestellt. Für viele fühlt es sich wie ein Vorgeschmack auf die Zukunft politischer Beteiligung an. Doch wie wünschenswert ist eine zunehmende Verlagerung politischer Beteiligungsprozesse ins Digitale? Was für Auswirkungen hat sie auf politische Partizipation von Bürger*innen? Was sind die Chancen und Risiken sogenannter „E‑Partizipation“? Höchste Zeit für eine Neubewertung.

E‑Partizipation bezeichnet grob gesagt sämtliche Formen politischer Beteiligung, bei denen Bürger*innen mittels Informations- und Kommunikationstechnologien mit staatlichen Institutionen, politischen Vertreter*innen und/oder untereinander in Kontakt treten können. Dazu gehören sowohl elektronische Wahlen (E‑Voting) als auch andere Formen politischer Teilhabe wie parteipolitisches Engagement oder das Einreichen von Online-Petitionen.

Digitale Wahlen: Alte Herausforderungen, neue Hürden

Ein häufig zitiertes Versprechen von digitalen Wahlen ist vor allem eine höhere Wahlbeteiligung, durch die nicht nur die Repräsentativität gesteigert, sondern auch die Legitimität von Demokratien aufgrund einer Beteiligung von mehr Menschen und diverseren Bevölkerungsgruppen erhöht wird.

In Deutschland war bei den letzten Bundestagswahlen in 2017 zwar mit 76,2 Prozent wieder eine höhere Wahlbeteiligung als in den vorangegangenen Bundestagswahlen zu verzeichnen, jedoch liegt diese weiterhin deutlich unter der Durchschnittswahlbeteiligung der 1950–80er Jahre, die weit über 80 Prozent lag. Insbesondere bei den unter 30-Jährigen ist die Wahlbeteiligung mit 68 Prozent unterdurchschnittlich. Ebenso unterrepräsentiert sind laut der Wahlanalyse der Bertelsmann Stiftung sozial benachteiligte Milieus: 63 Prozent der Wahlberechtigten aus diesem Milieu haben nicht gewählt. Geringe Wahlbeteiligung und mangelnde Repräsentativität gefährden damit unmittelbar einen der Grundpfeiler unserer Demokratie: Ihre Legitimation. Doch inwiefern können digitale Wahlen hier Abhilfe schaffen?

Ein Blick in das Vorzeigeland für E‑Voting, Estland, liefert hier interessante Erkenntnisse. E‑Voting wurde in Estland schon in 2005 eingeführt und damals vor allem als sogenanntes „early-voting“ konzipiert, d.h. ähnlich wie bei der Briefwahl als Möglichkeit, um bereits vor dem eigentlichen Wahltag seine Stimme abzugeben. Zwar scheint die Anzahl der Est*innen, die auf E‑Voting zurückgreifen, seitdem stetig zugenommen zu haben und betrug bei der letzten Parlamentswahl in 2019 knapp ein Drittel aller Wahlberechtigten, jedoch blieb ein signifikanter Anstieg der Wahlbeteiligung aus. Studien haben außerdem ergeben, dass vor allem diejenigen ihre Stimme online abgeben, die ohnehin wählen gehen: Menschen mit hohem Bildungsgrad und höheren Einkommen. Minderheiten und Menschen aus sozial benachteiligten Milieus sind unter den Online-Wähler*innen sogar zum Teil noch weniger repräsentiert als bei analogen Wahlen.

Dafür könnte E‑Voting immerhin bei jüngeren Wählergruppen und Menschen, deren Mobilität beeinträchtigt ist, zu einer höheren Wahlbeteiligung führen, indem es eine weitere Alternative zu der Briefwahl bietet und so den Gang zum Wahlamt überflüssig macht.

E‑Voting schafft aber nicht nur Barrieren ab, es erzeugt auch neue. Nur für Wahlberechtigte mit Zugang zu digitalen Endgeräten und einem ausreichenden Maß an Digitalkompetenz kommt digitales Wählen überhaupt in Frage. Zu den Haupthindernissen kommen außerdem mangelndes Vertrauen in das Internet und Datenschutzbedenken hinzu. Und das nicht zu Unrecht: Die Durchführung allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahlen stellt online eine große Herausforderung dar. Insbesondere die Beeinflussung der Wahl durch Familienangehörige im Haushalt sowie durch externe Hackerangriffe sind ein Problem. Hinzu kommt das bisher in Deutschland ungelöste technische Problem hinsichtlich der geheimen und unverfälschten Speicherung von Stimmen: Wahlen müssen nachvollziehbar sein, um gültig zu sein, und trotzdem geheim. Solange es keine technischen Systeme gibt, bei denen die Einhaltung dieser Wahlrechtsgrundsätze zweifelsfrei gewährleistet werden kann, bleibt E‑Voting zumindest in Deutschland Zukunftsmusik. Und vielleicht ist das auch gar nicht so schlimm.

Digitale Tools für mehr politisches Engagement

Wie sieht es mit anderen Formen der E‑Partizipation aus? Ohne an dieser Stelle auf die Bandbreite an digitalen Beteiligungsmöglichkeiten eingehen zu können, die vom politischen Engagement auf Social Media über Online-Konsultationen bis hin zu Online-Petitionen reichen und deren Potenziale sehr unterschiedlich sind, lässt sich sagen, dass viele der Probleme von Online-Wahlen auch hier bestehen. Der sogenannte „digital divide“ setzt sich bei anderen internetgestützten Beteiligungsformen fort: Die Teilhabechancen sind ungleich verteilt. Laut der Partizipationsstudie 2014 des Alexander von Humboldt Instituts für Internet und Gesellschaft nutzen vor allem junge Menschen, Akademiker*innen und Männer häufiger als Frauen politische Beteiligungstools online.

Ähnliches fand eine Studie der New York University und YouGov aus dem Jahr 2014 heraus: Menschen, die sich bei Twitter politisch äußern, sind tendenziell männlich, wohnen in Städten und verfügen über starke politische Präferenzen. Anders gesagt: Es sind wenige, die sich viel beteiligen, und viele, die sich wenig beteiligen.

Nur weil rein formell alle, die über einen Internetanschluss verfügen, sich beteiligen könnten, heißt das noch lange nicht, dass sie es tun. Für digitale Beteiligungstools bedeutet dies, dass ein besonderes Augenmerk auf die Repräsentativität der beteiligten Bürger*innen gelegt werden muss, wenn verhindert werden soll, dass diese von einer kleinen, gut gebildeten und meinungsstarken Gruppe vereinnahmt werden. Ganz allgemein zeigt das, dass genau wie im analogen Raum sich Nichtbeteiligung vor allem anhand von grundsätzlicheren sozialen, kulturellen, ökonomischen und zeitlichen Faktoren erklären lässt, statt an einem Mangel an Beteiligungsmöglichkeiten.

Trotz dieser Herausforderungen sind Versuche, E‑Partizipation auszubauen, durchaus lohnenswert. Anders als bei demokratischen Wahlen, wo Zugangsgleichheit unter allen Umständen gewährleistet sein muss, sind beim Einsatz von digitalen Beteiligungstools z.B. in der Parteiarbeit die Risiken deutlich geringer und das Verbesserungspotenzial größer. So könnte ein verstärkter Einsatz von digitalen Kommunikationstools in der Parteiarbeit durchaus dabei helfen, wieder mehr junge Menschen anzusprechen und diese für parteipolitisches Engagement zu begeistern.

Online und offline müssen zusammen gedacht werden

Letztlich lässt sich sagen, dass digitale Technologien zwar kein Allheilmittel für Probleme unserer repräsentativen Demokratie sind, sie können aber Teil der Lösung sein. Entscheidend dafür ist, dass Online und Offline-Beteiligung zusammen gedacht werden. Denn: Auch soziale Ungleichheiten und damit verbundene Beteiligungshürden setzen sich im digitalen Raum fort. Anders gesagt: Die Zukunft politischer Partizipation ist ein Hybrid — eine Kombination aus niedrigschwelligen off- und online Beteiligungsmöglichkeiten. Im Fokus sollte dabei stets die Frage stehen: Wie können wir Online- und Offline-Beteiligungsmöglichkeiten zusammen so gestalten, dass sie 1) für alle gleichermaßen zugänglich sind und 2) auch Spaß machen? Hierfür muss analog zum UX-Design bei der Gestaltung von Partizipationsmöglichkeiten mehr aus der Perspektive der Bürger*innen gedacht werden. Das bedeutet auch, dass Online-Tools komplementär zu analogen Beteiligungsmöglichkeiten selbstverständlich sein sollten. Die Möglichkeit, über Zoom bei einem Partei ‑oder Gewerkschaftstreffen teilzunehmen, sollte im Jahr 2020 eigentlich eher zur Regel als zur Ausnahme gehören. Insofern kann der Corona-Krise vielleicht zumindest in dieser Hinsicht längerfristig etwas Gutes abgewonnen werden: Die Bereitschaft Neues auszuprobieren und den digitalen Raum endlich als selbstverständliche Erweiterung des politischen Raums anzuerkennen.

Magali Mohr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Stabstelle Strategie & Inhalte des Futurium in Berlin und Affiliate beim Think Tank d|part, bei dem sie bis Juli 2019 als Senior Research Fellow sowie als Head of Impact and Engagement tätig war. Zuvor arbeitete die Politikwissenschaftlerin bei der Stiftung FUTURZWEI an dem Forschungsprojekt „Zukunftsbilder der Nachhaltigkeit“, wo sie die Zukunftsvorstellungen Jugendlicher in Deutschland untersuchte sowie als Unternehmensberaterin bei einem Marktforschungs-unternehmen in London.