Die Nation als emanzipatives Projekt für das 21. Jahrhundert?


von Sascha Nicke

Die Nation als ein homo­genes und nicht verän­der­bares Kollek­tiv existiert nicht. Aber sie hat ein starkes demokratis­ches Poten­zial, wenn sie als ein verän­der­bares (his­torisches) Pro­dukt und in ein­er offe­nen und inkludieren­den Weise ver­standen wird.

Aller Prophezeiun­gen über das Ende der Natio­nen und den Auf­stieg supra­na­tionaler, glob­aler Gebilde im 21. Jahrhun­dert zum Trotz, die Nationwirkt lebendi­ger denn je. Denn der nationale Bezugsrah­men bildet nach wie vor eine der wichtig­sten Bezugs­grup­pen in der indi­vidu­ellen Iden­titäts­bil­dung. Dies hat die Studie Voic­es on Val­ues des Think Tanks d|part erneut aufgezeigt. Danach ist zum Beispiel für 74% der in Deutsch­land Befragten die Iden­ti­fizierung als Deutsche nicht nur von zen­traler Bedeu­tung, für 57% bildet die nationale Zuge­hörigkeit zudem der wichtig­ste Anknüp­fungspunkt in ihrer kollek­tiv­en Veror­tung. Und diese Zen­tral­ität der nationalen Iden­ti­fizierung zieht sich in ein­er erwart­baren Var­i­anz durch alle poli­tis­chen Lager. Ein Bedeu­tungsver­lust der Nation erscheint bei diesen Zus­tim­mungswerten unre­al­is­tisch, eine Iden­tität ohne nationale Kat­e­gorie heutzu­tage für viele Zeitgenossen kaum denkbar zu sein. Ein Prob­lem beste­ht jedoch darin, wenn die Nation als ein homo­genes, nicht verän­der­bares Kollek­tiv ver­standen wird, dass auf biol­o­gis­tis­chen Abstam­mungs­gedanken basiert.

Die Nation als sub­stantielle und homo­gene Gemeinschaft

Im sub­stantiellen Ver­ständ­nis von Nation wird die Ein­heit als eine nat­u­ral­isierte Erschei­n­ungs­form dargestellt. Konkret meint dies den Tatbe­stand, dass sie als eine immer schon existierende, in der Natur ver­ankerte Kat­e­gorie ver­standen wird, die qua­si in der Wesen­heit der Men­schen begrün­det liege und dem Indi­vidu­um in Folge sein­er Abstam­mung gegeben wäre. Ein­herge­hend wären damit dann auch spez­i­fis­che Eigen­heits­for­men (etwa „der Deutsche ist pünk­tlich“) als auch der Gedanke eines homo­ge­nen, also gle­ichar­tig seien­den Kollek­tives („Die/Alle Deutschen sind pünk­tlich“). In diesem Sinne wird die Nation zu ein­er Sub­stanz und die Geburt zu ein­er Schick­sal­haftigkeit erhoben, die den Einzel­nen mit gen­uinen Eigen­schaften ausstat­te und ihn zum Teil ein­er ein­heitlichen Gruppe mache. Dies kann Men­schen zwar auf ein­fache Weise eine feste Zuge­hörigkeit, einen Platz in der Welt und eventuell gar einen Lebenssinn ver­mit­teln. Nur existierte diese Form der Nation zu keinem his­torischen Zeit­punkt und grund­sät­zlich kann es sie auch gar nicht geben. Denn jede Gruppe unab­hängig ihrer Größe stellt ein het­ero­genes Gebilde ver­schieden­ster Men­schen und Eigen­heit­en dar.

Die per­ma­nente Her­stel­lung der Nation

Die Nation ist also kein biol­o­gis­ch­er Tatbe­stand, keine sub­stantielle Wesen­heit, son­dern deren Konzep­tion­sweise wird immer im Zuge eines Aushan­del­prozess­es zwis­chen den zeit­genös­sis­chen Akteuren und im Kon­text ihrer jew­eili­gen poli­tis­chen und sozio-kul­turellen Rah­menbe­din­gun­gen erzeugt. Sie ist ein his­torisches und verän­der­bares Pro­dukt, dass in konkreten his­torischen Kon­tex­ten ent­standen ist und sich dazu im weit­eren zeitlichen Ver­lauf verän­dert. Dazu besitzt sie ein aus­ge­sproch­enes Poten­tial zur Inklusion.

Die Nation als abstrak­te Projektionsfläche

Weil die Nation nicht ein­heitlich ist, son­dern ganz im Gegen­teil ein äußerst het­ero­genes Gebilde, fungiert sie als eine riesige Pro­jek­tions­fläche, in der sich kon­träre Vorstel­lun­gen vere­inen lassen. Charak­ter­is­tis­che Merk­male, was zum Beispiel das Deutsche aus­mache oder worauf man als Deutsche*r beson­ders stolz sein könne, gibt es viele. Dies zeigt sich in der Voic­es on Val­uesStudie, weil darin genau danach gefragt wor­den ist. So dienen neben wer­to­ri­en­tierten Ein­heit­en wie zum Beispiel das Grundge­setz, der Wohlfahrtsstaat oder die Willkom­men­spoli­tik, auch abstrak­tere Gegen­stands­bere­iche wie das kul­turelle Erbe oder die deutsche Wirtschaft­skraftals Fak­toren des Stolz-seins. Was jedes Indi­vidu­um dabei jedoch konkret mit verbindet, bleibt offen und unkonkret. So lässt sich zum Beispiel ein­er­seits unter dem kul­turellen Erbe die Erin­nerungskul­tur und die gesellschaftliche Aufar­beitung und Beschäf­ti­gung mit der deutschen Ver­gan­gen­heit ver­ste­hen. Ander­er­seits kön­nten auch his­torische Per­so­n­en zum kul­turellen Erbe gerech­net wer­den, denen eine beson­dere Leis­tung oder Gabe zuge­sprochen wird, welche dann zu ein­er Beson­der­heit des Deutschen gen­er­al­isiert wird (Goethe, Schiller). Der nationale Rah­men und die his­torischen Bezugsmöglichkeit­en sind so umfan­gre­ich und vielschichtig, da find­et jedes poli­tis­che Lager Tatbestände, mit denen sie sich iden­ti­fizieren kön­nen. Dadurch bildet die Kat­e­gorie einen guten Rah­men zur Inklusion.

Anspruch eines demokratis­chen Nationsverständnisses

In dem Aushand­lung­sprozess der Nation obliegt ins­beson­dere staat­spoli­tis­chen Repräsentant*innen und öffentlichen Akteuren auf­grund ihrer aus­geprägten öffentlichen Präsenz eine Ver­ant­wor­tung. Wie über die Nation gere­det und wie diese von diesen gedacht wird, hängt mit von deren Äußerun­gen ab. Deswe­gen ist es von hoher Bedeu­tung, dass diese auf ein Reden von ein­er gen­uinen Leitkul­tur, von spez­i­fis­chen nationalen Tra­di­tio­nen oder Eigen­heit­en verzicht­en. Denn ein­er­seits existieren diese nie in ein­er auch nur nahezu erscheinen­den Ein­heitlichkeit. Ander­er­seits ver­langt eine demokratisch ver­fasste Gesellschaft, möglichst alle Akteurs­grup­pen (Mehrheit­en wie Min­der­heit­en) mit in die Gemein­schaft einzubeziehen und nicht ein auf Auss­chluss basieren­des Selb­st­bild zu kreieren. Was nutzen denn pauschal­isierte Zurück­weisun­gen spez­i­fis­ch­er Grup­pen oder die Erk­lärung ein­er Unvere­in­barkeit der Nation mit gewis­sen Reli­gio­nen? Sie erzeu­gen nur Aus­gren­zun­gen, ver­stärken auf­grund ihrer ver­all­ge­mein­ern­den Stig­ma­tisierung Prob­leme und fördern Hass und Gewalt. Dazu wer­den solche rhetorischen Fig­uren über­haupt nicht benötigt, um die Grund­prinzip­i­en und ‑werte der Gesellschaft, die im Grundge­setz ver­ankert sind, zu ver­mit­teln und für deren Ein­hal­tung zu sor­gen. Ger­ade das Grundge­setz bildet laut Voic­es On Val­ues einen aus­geprägten Bezugspunkt in der Iden­titäts­bil­dung für viele Deutsche, daran lässt sich anknüpfen.

Ein Nationsver­ständ­nis für das 21. Jahrhundert

Wenn es also darum geht, unser Ver­ständ­nis der deutschen Nation zu entwick­eln, soll­ten wir uns auf die Grund­prinzip­i­en des gemein­samen Zusam­men­lebens konzen­tri­eren, um damit ein Gemein­schafts­ge­fühl zu erzeu­gen, dass möglichst viele Men­schen inkludiert. Damit ver­stärken wir die Funk­tion der Kat­e­gorie, weil Zuge­hörigkeit und damit ein­herge­hende Anerken­nung und Akzep­tanz an Ver­hal­tensweisen geknüpft wer­den und Men­schen dadurch nicht per se dazuge­hören oder aus­geschlossen wer­den. Anstelle dessen entschei­det das Ver­hal­ten des Einzel­nen darüber, wom­it sich auf das Wesentliche konzen­tri­ert wird, näm­lich auf ein Gemein­wohl ori­en­tiertes Zusam­men­leben vieler/aller. Der Nations­be­griff hat damit also ein starkes demokratis­ches Poten­zial, wenn er als ein verän­der­bares (his­torisches) Pro­dukt und in ein­er offe­nen und inkludieren­den Weise ver­standen und ange­wandt wird. Und ger­ade das wird benötigt, um die Her­aus­forderun­gen unser­er gegen­wär­ti­gen, glob­al ver­net­zten und kom­plex­en Welt im 21. Jahrhun­dert zu bewälti­gen. Ein Spiel mit nationalen Stig­ma­tisierun­gen, mit Aus­gren­zun­gen und Zurück­weisun­gen basierend auf Aspek­te wie der Herkun­ft kön­nen wir uns dabei kom­plett sparen, denn zur Lösung beste­hen­der Prob­leme tra­gen diese nichts bei!

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Sascha Nicke ist Research Fel­low bei d|part.

Dis­claimer

Die in diesem Artikel geäußerten Ansicht­en und Mei­n­un­gen entsprechen denen des Autors.

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