Ich darf das – ich bin das Bundesverfassungsgericht!
Von Nadine Frommholz.

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Mit seiner Entscheidung — 2 BvE 2/13 — vom 26. Februar 2014[1] hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Drei-Prozent-Sperrklausel im deutschen Europawahlrecht gekippt, sondern gleichzeitig gezeigt, dass das Prinzip der Gewaltenteilung in der Theorie schön klingt, in der Praxis jedoch ruhig zu vernachlässigen ist.
Aus dem Leitsatz der Entscheidung:
„Der mit der Drei-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht verbundene schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien ist unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen.“
Mit diesem Urteil verkennt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die verfassungsrechtlichen Grenzen seiner Prüfungskompetenz gegenüber der gesetzgeberischen Entscheidung, indem es seine eigene Prognoseentscheidung über mögliche Folgen einer Sperrklausel anstelle der des Gesetzgebers stellt. Dieses bedeutet, dass das BVerfG die im Grundgesetz als Gewaltenteilung verankerte Trennung von Judikative und Legislative überschreitet und in den Bereich der Gesetzgebung eindringt.
Zum Fall:
Nachdem das BVerfG im November 2011 die Fünf-Prozent-Sperrklausel im Europawahlrecht für verfassungswidrig erklärt hatte, hatte das Europäische Parlament am 22. November 2012 eine Entschließung (2012/2829 (RSP)[2] verabschiedet, die unter anderem folgenden Appell enthielt:
„Das Europäische Parlament vertritt angesichts der durch den Vertrag von Lissabon eingeführten neuen Modalitäten für die Wahl der Europäischen Kommission und des sich demzufolge ändernden Verhältnisses zwischen Parlament und Kommission ab den Wahlen 2014 die Ansicht, dass verlässliche Mehrheiten im Parlament für die Stabilität der Legislativverfahren der Union und das reibungslose Funktionieren ihrer Exekutive von entscheidender Bedeutung sein werden, und fordert die Mitgliedstaaten daher auf, in ihrem Wahlrecht gemäß Artikel 3 des Aktes zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung geeignete und angemessene Mindestschwellen für die Zuteilung der Sitze festzulegen, um dem in den Wahlen zum Ausdruck gekommenen Wählerwillen gebührend Rechnung zu tragen, bei gleichzeitiger Wahrung der Funktionalität des Parlaments.“
Auf diesen deutlichen Appell hin beschloss der deutsche Gesetzgeber eine erneute Festsetzung einer Sperrklausel, dieses Mal in abgeschwächter Höhe von drei Prozent. Problematisch bei der Festlegung einer Sperrklausel ist, dass damit in das Gleichheitsgrundrecht aus Art. 3 I GG und die Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 I GG eingegriffen wird. Der Bundestag begründete diese Entscheidung damit, dass er unter dem Ziel der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas seiner Mitverantwortung für die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlamentes gerecht werden wolle. Bei einer starken Zersplitterung des Parlaments steige das Risiko einer anhaltenden Blockade der parlamentarischen Willensbildung. Da dieses weder der Exekutivarbeit des Parlaments noch für der demokratischen Moral in Europa diene, bedürfe es laut Bundestag einer Mindestschwelle, die einer möglichen Funktionsbeeinträchtigung entgegenwirke. Dieses rechtfertige die Einschränkung der Erfolgswertgleichheit der Wahl, da es auch im Wählerauftrag liege, nicht nur ein Vertretungsorgan, sondern ein handlungsfähiges Vertretungsorgan hervorzubringen.
Diese Entscheidung des Gesetzgebers ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die durch die Drei-Prozent-Sperrklausel verursachte Differenzierung in den Erfolgswerten der Wählerstimmen ist entgegen der Ansicht des BVerfG verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
Will der Gesetzgeber in Grundrechte, wie vorliegend in Art. 3 Abs.1 GG und Art. 21 Abs.1 GG, eingreifen, bedarf er hierfür einer gesetzlichen Rechtfertigung, die ihrerseits geeignet, erforderlich und angemessen sowie verhältnismäßig sein muss. Eine Differenzierung in den Wahlerfolgswerten bedarf zu seiner Rechtfertigung somit eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes. Bei der Bewertung eines solchen Grundes hat sich der Gesetzgeber an der politischen Wirklichkeit zu orientieren und auf Grund dieser eine prognostische Entscheidung zu treffen. Die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlamentes ist ein solcher Grund. Die vom Gesetzgeber getroffene Prognose, dass ohne die Einführung einer Drei-Prozent-Sperrklausel die Möglichkeit einer Funktionsbeeinträchtigung des Europäischen Parlamentes besteht, basiert auf nachvollziehbaren, geschichtlich begründeten Überlegungen. So wären beispielsweise 2009 in Deutschland ohne Sperrklausel rechnerisch weitere sieben, 2004 sogar neun weitere Parteien und politische Vereinigungen zusätzlich ins Europäische Parlament eingezogen. Diese Prognoseentscheidung steht, solange kein offensichtlicher Missbrauch vorliegt, allein dem Gesetzgeber zu und ist der gerichtlichen Kontrolle des Bundesverfassungsgerichtes entzogen. Es ist nicht befugt, diese Bewertung weitergehend zu überprüfen oder gar, wie hier geschehen, durch eine Eigene zu ersetzen!
Neben der Tatsache, dass das BVerfG seine Prüfungskompetenz überschreitet, leidet auch die Urteilsbegründung an zwei weiteren schweren Bewertungsmängeln.
Das BVerfG begründet die Entscheidung, dass eine Sperrklausel auf europäischer Ebene derzeit als unnötig anzusehen sei, damit, dass, sollte das EU-Parlament aufgrund einer Zersplitterung der Parteien ohne Mehrheitsbildung handlungsunfähig werden, dieses für den Zeitraum der Wahlperiode hinzunehmen sei, da die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten dann immer noch in der Lage wären eine nachträgliche Sperrklausel einzuführen, um wiederum für die nächste Wahlperiode dann die Handlungsfähigkeit des EU-Parlamentes zu gewährleisten. Damit verkennt das BVerfG die Tatsache, dass der nationale Gesetzgeber einen präventiven Auftrag hat, das Wahlrecht so zu gestalten, dass es zu einer Funktionsunfähigkeit erst gar nicht kommt. Das Gegenteil sollte der Fall sein: Sollte sich eine Sperrklausel im Nachhinein als unnötig herausstellen, kann diese abgeschafft werden.
Die Hinnahme der möglichen Handlungsunfähigkeit des Europäischen Parlamentes für gegebenenfalls fünf Jahre ist keine Alternative, die der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs in Art. 3 I GG und Art. 21 I GG ernsthaft entgegengehalten werden darf. Dieses mit dem Hinweis, das Europäische Parlament werde sich erst in den nächsten Jahrzehnten zu einem Organ von entsprechender Bedeutung etablieren als dass ein Eingriff gerechtfertigt sei, ist ein derber Schlag gegen die Europäische Union und ihrer Einrichtungen. Zwar gibt es Unterschiede in der Bedeutung des Europäischen Parlaments im Vergleich zum bspw. Deutschen Bundestag, diese rechtfertigen aber keine andere Bewertung der Notwendigkeit.
Im Weiteren ist es ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht verfehlt, seine eigene Entscheidung darauf stützen zu wollen, dass es ungewiss sei, wie andere EU-Mitgliedstaaten ihre Wahlsysteme zukünftig ausgestalten oder abändern, so dass eine konkrete Prognose quasi dauerhaft unmöglich sei. Dieses bedeutet nämlich übersetzt, dass eine Sperrklausel des Europawahlgesetzes somit immer verfassungswidrig wäre. Der Verantwortung gegenüber Europa kann und will sich der deutsche Gesetzgeber nicht entziehen — ebenso wenig darf das dem Bundesverfassungsgericht durch fadenscheinige Ausreden gestattet sein.
Letztendlich mutet es fast schon komisch an, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil ernsthaft überprüft, ob der Gesetzgeber gegebenenfalls gegen den Grundsatz der Organtreue verstoßen haben könnte — indem er nachdem die Fünf-Prozent-Sperrklausel vom BVerfG gekippt worden war, die Drei-Prozent-Sperrklausel eingeführt hat, während es gleichzeitig die eigene Prüfungskompetenz zu Lasten des Gesetzgebers unbefangen überschreitet.
Die Haltung des BVerfG ähnelt in ihrer Art nicht wenig den Starallüren einer Diva – frei nach dem Motto: Ich darf das – ich bin das Bundesverfassungsgericht!
[1] http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20140226_2bve000213.html[2] http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P7-TA-2012–0462+0+DOC+XML+V0//DE
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Nadine Frommholz ist Juristin und Research Fellow bei d|part.
Disclaimer
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten und Meinungen entsprechen denen der Autorin.