War früher wirklich alles besser? Krise und Demokratie in Europa
von Jakob Hensing.
Von John Maynard Keynes stammt die Einsicht, dass Ideen bisweilen politisch einflussreicher als Interessen sind. Dies bewahrheitet sich einmal mehr in der Euro-Krise: die unter Ökonomen und EU-Technokraten verbreitete Ansicht, dass eine „Währungsunion nicht ohne Fiskalunion“ möglich ist, hat sich inzwischen unverrückbar in den Köpfen vieler Politiker festgesetzt. Ob dies tatsächlich der Fall ist sei hier dahingestellt, die Frage scheint inzwischen jedenfalls weniger ob, sondern wann die Fiskalunion kommt.
Klar ist, dass diese Entscheidung weitreichende Konsequenzen für die Demokratie in Europa haben wird. Fiskalpolitik gehört zu den Schlüsselkompetenzen den souveränen Nationalstaats — zahlreiche Politikfelder mit hohem Konfliktpotential sind eng damit verbunden, insbesondere Fragen des Wohlfahrtsstaats. Hinzu kommt die andauernde Debatte über ein „Demokratiedefizit“ in den europäischen Institutionen. Nicht von ungefähr spricht aus vielen Kommentaren die Sorge, dass der Schritt zur Fiskalunion einen Verlust an demokratischer Legitimität bedeuten könnte.
Zu Recht wird in diesem Politikfeld eine größere Rolle der bestehenden EU-Institutionen, mit ihren weithin als technokratisch und bürgerfern angesehenen Prozessen, kritisch gesehen. Bemerkenswert allerdings ist, in welchem Maße dabei die nationale Ebene unreflektiert als natürlicher Hort politischer Teilhabe dargestellt wird. EU-freundliche Stimmen in der Debatte zum Demokratiedefizit weisen seit langem darauf hin, dass an die EU oftmals demokratietheoretisch hergeleitete Maximalansprüche angelegt werden, die mit der Realität in Europas Nationalstaaten wenig zu tun haben.
Die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte (Stichwort „Individualisierung“) sind nicht ohne Wirkung auf das Verhältnis zwischen Bürgern und nationalen politischen Institutionen geblieben. Die wachsende Unzufriedenheit in europäischen Gesellschaften mit einem nahezu ausschließlich auf Repräsentation ausgerichteten Demokratiemodell wird regelmäßig in Studien dokumentiert. Angesichts der Häufigkeit, mit der in nationalen Zusammenhängen von „Politikverdrossenheit“ die Rede ist, ist die Darstellung nationaler Prozesse in der EU-Debatte mehr als erstaunlich.
Insofern ist es eine vertane Chance für die Demokratie in Europa, wenn in der Debatte über die Fiskalunion als einzige Alternativen zur „undemokratischen EU“ nur die Beibehaltung des bisherigen Modells oder gar eine Wiederherstellung der Situation vor dem Maastricht-Vertrag präsentiert wird. War früher wirklich alles besser? Selbst wenn die Frage nach der Realisierbarkeit dieser Strategie für einen Moment außen vor bliebe – wirklich wünschenswert ist dieses Modell aus Sicht eines progressiven Demokratieverständnisses nicht.
Stattdessen sollte verstärkt diskutiert werden, wie bestehende Demokratiedefizite (sowohl auf supranationaler als auch auf nationaler Ebene) mit demokratischen Innovationen und institutionellen Reformen angegangen werden können. Die Stärkung existierender repräsentativer Mechanismen auf EU-Ebene ist ein erster wichtiger Aspekt. Niedrige Beteiligungen an Wahlen zum Europaparlament werden oft als Indiz einer generellen Europamüdigkeit der Wähler dargestellt – tatsächlich finden sie aber wohl auch deshalb eine so geringe Resonanz, weil die Rolle des Parlaments für den Normalbürger kaum ersichtlich ist und es keine echten Streitthemen gibt, zu denen sich die Parteien positionieren. So verkommen EU-Wahlen regelmäßig zur Abrechnung mit nationalen Regierungen. Sollte das Parlament eine wirklich bedeutsame Rolle in Fragen von hohem öffentlichen Interesse erhalten, könnte sich dies durchaus ändern.
Darüber hinaus muss aber auch die Rolle anderer Formen politischer Partizipation neu gedacht werden. Die im Lissabon-Vertrag vorgesehene Europäische Bürgerinitiative ist mit ihren absurd hohen Voraussetzungen dabei eher ein Negativbeispiel. Vermeintlich fortschrittlichere Ideen, wie etwa das von Stanford-Professor James Fishkin entwickelte „Deliberative Polling“ sind von der Anwendungsreife gerade auf EU-Ebene noch weit entfernt.
Insgesamt ist diese Debatte zu stark im Denken verhaftet, der Schlüssel zu einer demokratischeren EU seien Partizipationsmöglichkeiten auf der supranationalen Ebene. Stattdessen sollte das oft besungene „Subsidiaritätsprinzip“ endlich ernst genommen werden – Regulierungen auf EU-Ebene sollten auf ein notwendiges Mindestmaß reduziert werden, während die konkrete Ausgestaltung soweit wie möglich auf der lokalen (und nicht notwendigerweise nationalen) Ebene erfolgt. Partizipative Formen demokratischer Teilhabe lassen sich auf dieser Ebene wesentlich einfacher verwirklichen.
Ein Verlust nationaler Souveränität muss nicht automatisch einen Verlust an Demokratie bedeuten. Der vermutlich bevorstehende Schritt zur Fiskalunion bietet trotz all seiner Unwägbarkeiten eine Möglichkeit, dies endlich unter Beweis zu stellen.
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Jakob Hensing ist Affiliate bei d|part.
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