Über die Logik der Macht und das Gedächtnis der Gesellschaft — eine system-theoretische Polemik
Von Götz Harald Frommholz und Christine Hübner.
Es erscheint erstaunlich, wie wenig Aufhebens um die jüngsten politischen Skandale wie das Nürburgring-Debakel oder das berliner Flughafen-Desaster gemacht wird. Kaum ein Rausreden auf Seiten der Verantwortlichen, kaum Rücktrittsforderungen von erzürnten Steuerzahlern. Sollten solche Debakel nicht ein Rücktrittsgrund für Kurt Beck oder das politische Aus für „Wowi“ sein? Heutzutage scheint es niemanden mehr zu wundern, dass neu-schuldige Staatsmänner – mir nicht, dir nichts – gesellschaftliche Herbststürme überstehen, den medialen eiskalten Winter durchschreiten und im politischen Frühling vollends rehabilitiert sein können. Während Kurt Beck lange gehegte Gesundheitsprobleme zum Ausstieg durch die Hintertür nutzte, setzt Klaus Wowereit weiterhin auf das enorme gesellschaftliche Kurzzeitgedächtnis für politische Skandale.
Das gesellschaftliche Kurzzeitgedächtnis in sieben Beispielen
Genügend andere Beispiele zeigen, dass diese Rechnung aufgehen kann: Cem Özdemir wurde seine Meilenaffäre schnell verziehen. Heute ist er Vorsitzender der Grünen. Der „Steineschmeißer“ Joschka Fischer wurde Außenminister. Der ehemalige kommunistische Aktivist Jürgen Trittin ist etablierter und systemkonformer denn je. SED Funktionär und gescheiterter Berliner Senator Gregor Gysi ist ein angesehener Staatsmann. Oskar Lafontaines chronisches Aufgeben und Versagen lastet ihm heute (außer in der SPD) kaum jemand an. Es interessiert die Gesellschaft schlichtweg nicht. Dr. Str. C. Karl Theodor zu Guttenberg wird bestimmt eines schönen Tages wieder in Erscheinung treten und als Messias nach der Ära Merkel gefeiert werden. Alles eine Frage der Zeit. Aber warum ist das so?
Das extremste aller Beispiele für das kurze Gedächtnis der Gesellschaft gibt Antworten: der Spendenskandal der CDU in den 1990er Jahren. Es gibt keinen vergleichbaren Eklat der jüngeren politischen Vergangenheit, der zu einer ähnlichen Empörung über den Umgang in der Politik geführt hat. Gelder sind verschwunden, Politiker waren angeschlagen und das politische System (in diesem Fall eine Partei) ist wie selten zuvor Gegenstand von Kritik geworden. Jeder Normalsterbliche Bürger hätte weder privat noch in seinem Berufsleben einen solchen Fehltritt überstanden. Es wäre auch niemals möglich gewesen, eine neue Karriere anzufangen. Erst recht nicht im selben Beruf. Doch das politische System und das gesellschaftliche Erinnerungsvermögen machen es möglich. Dass Politiker wie Wolfgang Schäuble — der maßgeblich für die schwarzen Koffer Verantwortung getragen hat — sich rehabilitieren können — sogar den Staatshaushalt steuern – demonstriert eindrucksvoll die Logik des politischen Systems.
Niklas Luhmann und die Logik der Macht
Was damals geschah, war geradezu ein Paradebeispiel für eine systemtheoretische Analyse der Gesellschaft und des funktional ausdifferenzierten politischen Systems. Es war, als hätte Niklas Luhmann seiner Theorie Beifall klatschen müssen. Entspricht dies doch genau der Logik der Politik aus systemtheoretischer Sicht. In der Politik geht es um die Kommunikation von Macht als Medium – und nicht wie in der Wirtschaft beispielsweise um Geld als Medium. Denn wer in der Lage ist, Macht zu kommunizieren und zu demonstrieren, wird in diesem System überleben. Selbst ein Josef Ackermann hätte einen solchen Skandal nicht überstehen können. Denn die Logik seines Systems – des Wirtschaftssystems – basiert auf der Kommunikation von Geld — der Reproduktion von „haben“ und „nicht haben“. Geld nicht zu „haben“ – geschweige denn zu unterschlagen – führt zweifelsohne zu einem abrupten Karrierestop, da sich Geld auf Jahr und Tag und für jeden gleich eindrucksvoll messen lässt.
Das gilt nicht für Macht als Medium im politischen System: Wolfgang Schäuble, als Relikt einer vergangenen und unrühmlichen Zeit der CDU, ist heute wieder ein angesehener Politiker und sogar Minister. Das Medium Macht lässt sich schlichtweg schlechter messen als Geld. Es bleibt ein perzipierter Faktor, der im notorisch kurzweiligen Gedächtnis der Gesellschaft keinen besonderen Stellenwert besitzt. So können wir annehmen, dass auch Klaus Wowereit sich erfolgreich rehabilitieren wird. Max Mustermann hätte schon längst seinen Job verloren. Aber der muss ja nicht für Millionen von Euro gerade stehen… Nicht im politischen System. Dort zählt nur die Reproduktion von Macht.
Eine andere Logik?
Allerdings gibt es in jüngster Zeit berechtigte Hoffnung darauf, dass das gesellschaftliche Gedächtnis gar nicht so schlecht ist, wie es scheint – dass die Bürger die Spielregeln des Systems selbst ändern. Glaubt man unserem Innenminister Hans-Peter Friedrich und so manchen distinguierten Wahlanalysten, geht die politische Beteiligung in Deutschland offenkundig den Bach herunter: mangelnde Wahlbeteiligung, Parteienrückgang, politisches Desinteresse. Also dürfte das entsprechend ein Indikator für das politische Einschlafen in Deutschland sein. Oder? Doch siehe da, die Menschen engagieren sich trotzdem. Sie sind im Verein tätig, setzen sich für Ihre Mitbürgerinnen und Bürger im Stadtrat ein und gehen demonstrieren. Sie bilden Initiativen wie die gegen „Stuttgart 21“ und gründen Parteien mit lächerlichen Namen wie die „Piraten“. Die Deutschen sind bekannt als Vereins-Fetischisten. Sie engagieren sich mannigfaltig. Kann es vielleicht sein, dass die Gesellschaft politisches Fehlverhalten doch erinnert? Sich nach Platon politisch, das heißt für Gesellschaft, im direkten Umfeld engagiert? Dann ist das zurückgehende Interesse an parteipolitisch — beziehungsweise konventionellen politischen — Verhalten nachzuvollziehen. Könnte es sein, dass Menschen das politische System genauso bestrafen wie das wirtschaftliche System: mit Enthaltung von Konsum?
Bleibt allein zu hoffen, dass das politische System genauso anpassungsfähig ist wie das wirtschaftliche System. Denn ansonsten könnte es für das funktional ausdifferenzierte System der Politik ein böses Ende geben. Andere Systeme — wie das religiöse System — haben bewiesen, dass sie nicht lern-bereit sind und letztendlich von der Gesellschaft marginalisiert wurden. Was Niklas Luhmann wohl dazu sagen würde? Was wäre, wenn die Politik den Status der funktionalen Differenzierung verliert? Eine Welt nach Luhmann? Unvorstellbar!
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Dr Götz Frommholz und Christine Hübner sind Partner bei d|part.
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