Zivilgesellschaft Reloaded? Die unerwartete Rückkehr des politischen Engagements
Von Anne Heyer.
Dornröschen ist aufgewacht
In letzter Zeit war erstaunlich wenig von der jüngsten Partei Deutschlands – der Alternative für Deutschland (AfD) – zu hören, und das obwohl die AfD in den Medien bisher omnipräsent war. Nachdem der rechtskonservative Flügel von Frauke Petry die Partei übernommen hat, ist es seltsam still um das neuste Mitglied in der rechtspopulistischen Parteienfamilie Europas geworden. Das ist umso verwunderlicher in Anbetracht der Tatsache, dass doch gerade jetzt die zwei liebsten politischen Kernthemen der Partei – Europa und Migration – auf wunderbare Weise miteinander verschmelzen und die mediale und politische Agenda bestimmen.
Doch statt von der AfD hören wir umso mehr von anderen Akteuren in den täglichen Nachrichten. Von Akteuren, die wir lange verloren und vergessen geglaubt hatten. Es scheint, als eroberten plötzlich zivilgesellschaftliche Gruppen und Einzelpersonen den öffentlichen Raum zurück. Um es mit dem Motto eines Berliner Straßenkünstlerfestival von vor ein paar Wochen zu sagen: „First we take the streets“. Vom politischen Protest auf der Strasse geht es sozusagen direkt in die Bahnhöfe der Nation.
Ich selbst habe eher langsam begriffen, was da eigentlich gerade in Deutschland passiert. Davor habe ich mich gewundert, warum ein 20 Jahre alter Song von den Ärzten plötzlich wieder im Radio aufgetaucht ist und die deutschen Hitlisten anführt oder weshalb die BBC life und ziemlich aus dem Häuschen über die Gastfreundschaft der „ordinary German men and women“ aus München berichtete.
Die deutsche Zivilgesellschaft hat sich selbst wiederentdeckt. Warum gerade jetzt? Vielleicht war die Zeit günstig: Semesterfreienzeit im Spätsommer, wo viele Studenten frei waren. Vielleicht war das Wetter passend für Aktionen an der frischen Luft unter der warmen Spätsommersonne. Ganz unerwartet, zumindest für mich und viele politische Kommentatoren, haben sich viel Deutsche über die sozialen Medien verabredet und ist auf die Straßen und in die Bahnhöfe gegangen, um Flüchtlinge willkommen zu heißen. Dabei reicht das Spektrum von direktem gesellschaftspolitischen Engagement, wie z.B. auf der Website „Flüchtlinge Willkommen“, bis hin zu spontanen Flashmobs, wie beispielsweise letzte Woche, als sich rund 1000 Bürger in Münster trafen, um gemeinsam den Die Ärzte-Song „Schrei nach Liebe“ zu singen.
Karrieregeil und politikverdrossen?
Wie ist es zu diesem plötzlichen Erwachen der deutschen Zivilgesellschaft gekommen? Was ist da eigentlich passiert mit den ach so politikverdrossenen, desinteressierten und angepassten Deutschen? Vor allem die heranwachsende Generation, die bekanntermassen besonders karrieregeil und ohne jegliches gesellschaftliches oder politisches Interesse von einem schlechtbezahlten Praktikum zum nächsten Auslandaufenthalt hetzt, ist doch schon lange nicht mehr so politisch engagiert wie die ehemaligen Helden aus 1968. Diese Selbstoptimierer haben doch schließlich weder Zeit für Protest noch Interesse für politische Fragestellungen.
Danke, Pegida!
Also nochmal zurück zur Ausgangsfrage: Was ist da eigentlich passiert in den letzten Monaten? Pegida ist passiert! Zuerst haben sich Pegida und ihre Sympathisanten relativ erfolgreich organisiert, auch in den Parteigremien der AfD. Man könnte auch sagen, dass die Pegida-Demonstranten die ersten Schritte einer neuen Bewegung von Bürgern im öffentlichen Raum geebnet haben. Auch diese Bewegung ist schliesslich ein Teil der Zivilgesellschaft. Pegida hat politische Fragen auf die Straße gebracht, Strukturen geschaffen und Netzwerke geknüpft, die Protest ermöglichten und politische Themen besetzt haben.
Gleichzeitig aber haben all die kleinen und großen Pegidaaktionen im Land, sicherlich unbeabsichtigterweise, auch das Gegencamp aktiviert. Mit dem Erfolg von Pegida sind Gegendemonstrationen entstanden. Diejenigen, die sich nicht mit der politischen Einstellung von Pegida identifizieren konnten, haben einen Moment gebraucht, um ihren Weg auf die Straße und in das Aktionsbündnis zu finden. Zum Beispiel auch mit Satire, die die Angst vor der Islamisierung des Abendlandes zur Angst des Patriotischen Islams gegen die Islamisierung des Abendlandes, PIGIDA, gemacht hat.
Aus historischer und soziologischer Erfahrung wissen wir, dass nicht nur persönliche Erfahrungen, sondern auch das Vorhandensein von Vorbildern, politische Organisationen und Aktionsrepertoire soziale Bewegungen inspirieren können. Diejenigen, die auf den Anti-Pegida Demonstrationen waren, haben so nicht nur für sich selber, sondern auch für viele andere ein Zeichen gesetzt, dass zivilgesellschaftliche Aktionen möglich sind – unter anderem auch mit Hilfe der Medien, die darüber berichtet haben. Mit der Verschärfung der Flüchtlingskrise und ihrer ikonischen Abbildung in den Medien hat ein Teil der Bevölkerung, der sich wahrscheinlich schon länger an den rechtspopulistische Parolen in den sozialen Medien und Internetkommentaren störte, den Weg auf die Strassen gefunden.
Auch wenn es über die Anti-Pegida Demonstranten kaum wissenschaftliche Erhebungen zu geben scheint (hier ist die einzige mir bekannte Studie zu finden), im Gegensatz zu den besser dokumentierten Pegida Anhängern, scheinen dort doch mehr als die üblichen politischen Aktiven beteiligt gewesen zu sein. Zumindest was Parteimitgliedschaft angeht, waren einer nicht-repräsentativen Studie zu Folge nur ca. 5% der Anti-Pegida Demonstranten Parteimitglieder. Für andere politische und gesellschaftliche Organisationen liegen leider keine Daten vor.
Zivilgesellschaftliches Engagement ist wieder hip and coming
Die Häufung von Kommentaren und Testimonials von bekannten Personen hat gesellschaftliches Engagement aus der entfernten, uncoolen politischen Aktivistenecke in den hippen Mainstream der Unterhaltungsbranche geholt: besonders die Kommentare von denjenigen, die entweder eher zur Neutralität neigen, wie die Tagesschausprecherin Anja Reschke, oder denen sich normalerweise von ernsten Themen distanzieren, wie die beiden Hipster-Entertainer Joko und Klaas oder der in diesem Sinne Trendsetter Hiphop Elektropunk Band Deichkind. Und dann habe ich noch gar nicht Till Schweiger erwähnt, der sich momentan als Gewissen der Nation inszeniert. Genau wie die große Hornbrille wieder hip und fashionable geworden ist, hat zivilgesellschaftliches Engagement ein neues Image bekommen.
Lange habe ich mich gewundert, warum die Kommentare voll von Rassismus und Hass gegen Migranten aus den 1990ern es zurück in die gesellschaftliche Mitte geschafft haben. Haben wir das nicht alles schon besprochen und dann gemeinsam beschlossen, dass wir alle nie wieder Lichtenhagen wollen? Jetzt scheint sich das Blatt gewendet zu haben. Engagement und „Flagge zeigen“ hat erneut einen Platz im gesellschaftlichen Diskurs und Alltag in Deutschland gefunden.
Politischer Protest und Engagement waren auch historisch immer mit kulturellen Erfahrungen und Identitäten verbunden. Selbst die legendären Revolutionen aus dem Achtzehnten und Neunzehnten Jahrhundert haben sich durch Klubaktivitäten und Massenevents verfestigt. Auch die Verbindung von Jugendkultur und 1968er Protest ist kein Zufall. Um viele zu mobilisieren, braucht es auch eine gute Prise Popkultur. Scheinbar hat das Thema von Flüchtlingshilfe es in die Köpfe geschafft – nicht zuletzt auch über die sozialen Medien, Flashmobs und stylischen T‑Shirts, auf denen „Refugees Welcome“ steht. Das bedeutet nicht, dass das Engagement nicht aufrichtig ist. Dies ist nicht notwendigerweise Engagement, dass allein auf Entertainment (Enga-tainment sozusagen) beruht! Erlebnis und politische Beteiligung können durchaus Hand in Hand gehen. Das schöne Gefühl, gemeinsam die Welt verändern zu können, hat schon immer den Protest auf der Straße bestimmt und große Veränderungen inspiriert.
Was wird bleiben?
Und doch bleiben Fragen zu dieser neuen deutschen Zivilgesellschaft zurück:
- Was wird überbleiben von diesen Wochen des zivilgesellschaftlichen Engagements? Was wird der Winter bringen, wenn der Aktionssommer abkühlt und die Zivilgesellschaft zurück im Alltag angekommen ist? In den letzten Wochen haben wir gelernt, dass das Blatt des zivilgesellschaftlichen Engagements sich schnell drehen kann. Die deutsche Öffentlichkeit hat sich so schnell von Politikverdrossenheit zu Pegida und zu ‚Refuges Welcome‘-Aktionen aufgemacht, dass politische Kommentatoren aus dem Staunen nicht mehr herauskommen.
- Aber wenn das Engagement so schnell entstehen konnte, kann es dann auch genauso schnell wieder verschwinden? War alles nur ein (Spät-)Sommermärchen, wie verschiedene Quellen bereits angekündigt haben? Jein! Auf der einen Seite werden die Straßenaktionen wahrscheinlich bald abebben, wenn es nicht weitere große politische Anlässe für ein Wiederaufleben geben wird. Ähnlich wie die Montagsdemonstrationen gegen die Regierung Schröder wird ein großer Teil der Demonstranten wieder zurück in den Rhythmus des Alltags gehen.
- Also alles für die Katz? All das Gedöns nur damit sich Gutmenschen kurzzeitig endlich wieder gut im Gruppenverband fühlen konnten?
Nicht unbedingt! Der Kurs in der öffentlichen Debatte hat sich gedreht. Dass die politisch doch eher wenig festgelegte Angela Merkel sich so deutlich zum Flüchtlingsthema geäußert und klar gemacht hat, wie sie sich ihr Land vorstellt, zeigt, dass das Thema die etablierte Politik erreicht hat. Wie langfristig sich die Initiativen halten werden, hängt von den Strukturen ab, die jetzt geschaffen werden. Ein Teil des Engagements, das auch jetzt schon an festere Strukturen gebunden ist, auch unter Gebrauch der sozialen Medien, wird den Winter überleben. Wenn die Politik, wenn Angela Merkel sich so kompromisslos wie in ihrem Kommentar auch für einen Kurswechsel in den Institutionen einsetzt, kann sich auch das vorhandene Engagement im Kleinen und Lokalen langfristig entwickeln. Die Erfahrung, dass Bürger zusammen arbeiten und gemeinsam etwas bewegen können, kann langfristig politisches Engagement stärken. Das kann hoffentlich auch dann gelingen, wenn die Politik das Engagement ihrer Bürger teilweise erschwert und gelegentlich Probleme hat, die Hilfe zu koordinieren.
In jedem Fall war es ein toller, unerwartet politischer Spätsommer. All diejenigen, die die deutsche Zivilgesellschaft totgeschrieben haben, sollten sich an die eigene Nase fassen und sich fragen, was sie selber ganz konkret im Kleinen in ihrer Nachbarschaft machen können, damit die Zivilgeselleschaft gut durch den jetzt einbrechenden kalten deutschen Winter kommt.
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Anne Heyer ist Affiliate bei d|part.
Disclaimer
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten und Meinungen entsprechen denen der Autorin.
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Picture: ‘Refugee Welcome Center Hamburg’ courtesy of Rasande Tyskar via Flickr, released under Creative Commons.