#Partizipationsdebatten

Empirisch spricht vieles für und wenig gegen eine Absenkung des Wahlalters

von Arndt Leininger, PhD 

Durch die Corona-Krise scheint plötzlich vieles möglich, was lange als undenkbar galt. Die Pateiarbeit wurde in den digitalen Raum verschoben, sogar Parteitage finden nun online statt. Selbst Fridays for Future demonstrierte digital. Nicht nur die Digitalisierbarkeit unserer Leben, sondern auch die unserer repräsentativen Demokratie wird damit auf die Probe gestellt. Für viele fühlt es sich wie ein Vorgeschmack auf die Zukunft politischer Beteiligung an. Doch wie wünschenswert ist eine zunehmende Verlagerung politischer Beteiligungsprozesse ins Digitale? Was für Auswirkungen hat sie auf politische Partizipation von Bürger*innen? Was sind die Chancen und Risiken sogenannter „E‑Partizipation“? Höchste Zeit für eine Neubewertung.

Vor ziemlich genau 50 Jahren trat eine Änderung des Grundgesetzes in Kraft, mit der das aktive Wahlrecht für Bundestagswahlen von damals 21 auf noch heute geltende 18 Jahre gesenkt wurde. Seitdem hat sich einiges getan. Inzwischen hat eine Reihe von Staaten das Wahlalter auf 16 Jahre gesenkt, darunter zum Beispiel Österreich. Auch in vielen deutschen Bundesländern dürfen 16- und 17-Jährige mittlerweile bei Kommunal- und Landtagswahlen wählen. Dieser föderale Flickenteppich – in vier Bundesländern gilt das Wahlalter 16 für Landtags- und Kommunalwahlen, in sieben nur für Kommunalwahlen und fünf Bundesländer verbleiben nach wie vor bei 18 Jahren – wird allerdings immer stärker begründungsbedürftig.

Schließlich, so Befürworter*innen einer Absenkung des Wahlalters, würde ein niedrigeres Mindestwahlalter den Kreis der Wahlberechtigten (auf junge Menschen) erweitern, was demokratietheoretisch wünschenswert erscheint und auch Auswirkungen auf die Politik haben mag – ein nicht unwichtiger Punkt im Hinblick auf den demographischen Wandel. Die Diskussionen in jüngster Vergangenheit aus Anlass des Jubiläums der Änderung des Grundgesetzes vor 50 Jahren, am 31. Juli 1970, haben jedoch gezeigt: eine Absenkung des Wahlalters auch auf Bundesebene ist politisch weiterhin umstritten. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass bisher nur wenige empirische Erkenntnisse über die tatsächlichen Chancen und Risiken eines niedrigeren Mindestwahlalters vorliegen.

Beide Seiten der Debatte nennen plausible Argumente, denen es aber an empirischer Unterfütterung mangelt. Gegner*innen einer Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre bezweifeln, dass 16- und 17-Jährige schon reif genug sind zum Wählen: sie würden sich nicht genug für Politik interessieren, somit nicht genug wissen und damit nicht in der Lage sein zu wählen. Dies liege nur daran, dass sie nicht wahlberechtigt seien, entgegen Befürworter*innen. Sie verweisen auf jene Jugendliche, die sich bei Bewegungen wie #fridaysforfuture engagieren, und argumentieren weiter: Die breitere Masse an Jugendlichen würde sich nicht für Politik interessieren, weil sie nicht mitbestimmen dürfen. Dürften sie wählen, würde sich das auch auf das politische Interesse Jugendlicher auswirken: Interesse und Wissen würden durch die Möglichkeit der Teilhabe wachsen.

Interessanterweise zeigt unsere Jugendwahlstudie, dass beide Seiten hier Unrecht zu haben scheinen. Mit finanzieller Unterstützung der Otto-Brenner-Stiftung, der Wissenschaftsstiftung der IG Metall, haben wir im September letzten Jahres nach den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen 6699 Jugendliche online befragt. Dabei zeigte sich, dass 16- und 17-Jährige, ja sogar 15-Jährige, genauso interessiert an Politik sind wie junge Erwachsene. Und zwar sowohl in Brandenburg, wo 16-Jährige schon wählen dürfen, als auch in Sachsen, wo genau wie bei der Bundestagswahl das Mindestwahlalter 18 gilt. Eine geringere politische Reife bei Jugendlichen konnten wir also nicht feststellen.

Gleichzeitig zeigen unsere Ergebnisse jedoch auch, dass ein niedriges Wahlalter kein Selbstläufer ist, wie manche Befürworter*innen zu glauben scheinen. Auf Basis der Daten können wir nicht feststellen, dass sich wahlberechtigte Jugendliche stärker für Politik interessieren als Gleichaltrige, die noch nicht wahlberechtigt sind. Wahlberechtigte Jugendliche suchen und bekommen aber verstärkt Informationen über Politik durch Nutzung des Wahlomats oder durch Gespräche im sozialem Umfeld, sobald sie die Wahlberechtigung erlangen.

Wenn also 16- Jährige in Brandenburg und Sachsen sich genauso interessiert zeigen, warum dürfen sie dann nur in einem der Bundesländer wählen? Dies zu erklären fällt zunehmend schwerer. In unserer Studie finden wir wenig, was gegen eine Absenkung des Wahlalters spricht. Vielmehr zeigt sich das große Potenzial eines niedrigen Mindestwahlalters. Denn mit 16 oder 17 Jahren wohnen mehr (potenzielle) Erstwähler*innen zu Hause und gehen noch zur Schule, wo sie informiert und zur Teilnahme motiviert werden können.

Und tatsächlich zeigt ein Blick auf die repräsentative Wahlstatistik: Dort wo 16- und 17-Jährige wählen dürfen, liegt ihre Wahlbeteiligung nochmals über der der 18- bis 20-Jährigen, welche wiederum häufiger wählen als Anfang- bis Ende-20-Jährige. Somit könnte sich ein niedrigeres Wahlalter langfristig positiv auf die Wahlbeteiligung auswirken. Denn wir wissen aus der politikwissenschaftlichen Forschung: Wer in Folge der erstmaligen Wahlberechtigung wählt, wird dies auch mit großer Wahrscheinlichkeit in der Zukunft tun – sie oder er hat also gute Chancen zur Gewohnheitswählerin oder zum Gewohnheitswähler zu werden.

Allerdings lohnt es auch bei diesem Argument noch einmal genau hinzusehen: Wer genau geht mit 16 oder 17 noch in die Schule? Dies sind vor allem junge Menschen, die das Abitur anstreben. Von einer Absenkung des Wahlalters sollten aber natürlich nicht nur Jugendliche in privilegierten heimischen oder schulischen Kontexten profitieren. Im Sinne einer gleichmäßigen Beteiligung und damit einer demokratischen Gleichheit sollten daher gezielte, flankierende Maßnahmen zu einer Wahlalterabsenkung ergriffen werden. Ist dies der Fall, so scheint tatsächlich wenig dagegen zu sprechen, ein halbes Jahrhundert nach Willy Brandts Diktum “Wir wollen mehr Demokratie wagen”, das Grundgesetz erneut entsprechend zu ändern.

Dieser Debattenbeitrag basiert auf der Jugendwahlstudie 2019, welche der Autor gemeinsam mit Thorsten Faas von der Freien Universität Berlin mit Unterstützung der Otto-Brenner-Stiftung durchgeführt hat. Die Ergebnisse der Studie lassen sich im Arbeitspapier 41 “Wählen mit 16? Ein empirischer Beitrag zur Debatte um die Absenkung des Wahlalters” der Otto-Brenner-Stiftung nachlesen. Diese hat eine Informationsseite geschaltet, auf der sich die Studie herunterladen lässt und sich weiterführenden Informationen zum Thema finden.

Am 24.8. wird es im Berliner Mediensalon die Gelegenheit geben, mit einem der Autoren der Studie sowie Vertreter*innen aus Politik und Medien über das Thema zu diskutieren. Die Veranstaltung steht unter dem Titel: “Jugendliche und Politik – ein schwieriges Verhältnis?” Angesicht der aktuellen Lagen wird um vorherige Anmeldung gebeten. Es wird auch einen Livestream via Crowdcast mit Beteiligungsmöglichkeit geben.

Arndt Leininger, PhD, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Arbeitsstelle Politische Soziologie der Bundesrepublik Deutschland am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Er studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und der London School of Economics and Political Science und promovierte anschließend an der Hertie School of Governance in Berlin. Im Sommersemester 2020 hat er eine Vertretungsprofessur für Umfrageforschung an der Universität Konstanz inne. Er forscht unter anderem zur direkten Demokratie, Wahl-und Abstimmungsbeteiligung sowie Jugend und Politik.