#Partizipationsdebatten

Mit dem Zufall Demokratie gestalten

von Thorsten Sterk 

Der Bundestag hat ein Problem. Verglichen mit der Gesamtbevölkerung sitzen im Parlament nicht nur zu wenige Frauen und zu wenig Migrant:innen, sondern auch zu wenig Landbewohner:innen und zu wenige Menschen mit Hauptschulabschluss. Das ergab vor einiger Zeit eine Abgeordnetenbefragung der Süddeutschen Zeitung.

Von 709 Abgeordneten waren nur 209 Frauen. Nur 21 der 709 Abgeordneten waren zwischen 21 und 29 Jahren alt. Würde der Anteil der Jüngeren im Bundestag der Bevölkerung entsprechen, müssten es 63 Parlamentarier:innen mehr sein. Ähnliches gilt für den Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Lehrer:innen und Jurist:innen sind die dominierenden Berufe, Handwerker:innen oder Landwirt:innen finden sich selten. Akademiker:innen beherrschen das Geschehen.

Parlamente wie der Bundestag repräsentieren die Bevölkerung zwar gut bzgl. ihrer politischen Ausrichtungen, aber nur sehr schlecht, wenn es um eine Abbildung der soziodemografischen Merkmale der Bevölkerung geht. Viele Menschen sehen sich dort mit ihren Gruppenzugehörigkeiten nicht repräsentiert. Untersuchungen zeigen aber, dass jemand aus der eigenen Gruppe als vertrauenswürdiger angesehen wird. Die Vertrauenskrise der Politik ist also auch eine Repräsentationskrise.

Wie lässt sich dagegen angehen? In jüngster Zeit werden an immer mehr Orten Bürgerräte in politische Entscheidungen miteinbezogen. Bürgerräte sind zufällig geloste Versammlungen von Menschen, die sich in einem begrenzten Zeitraum mit Ideen zur Lösung politischer Probleme befassen. Das Besondere daran: Die Mitglieder sind nach Alter, Geschlecht, Wohnort, Gemeindegröße, Bildung und Migrationshintergrund ein Abbild der Bevölkerung. Dort sitzen Rentner:innen neben Schüler:innen, Manager:innen neben Handwerker:innen und Landmenschen neben Stadtbewohner:innen. Die Teilnehmenden dieser Bürgerräte werden zusammengestellt aus Bewerbungen, die Menschen eingereicht haben, die zuvor zufällig aus der Gesamtbevölkerung ausgelost und zur Teilnahme am Bürgerrat eingeladen wurden.

Mit der Hilfe von Expert:innen und unter professioneller Moderation informieren sich die Bürgerrat-Teilnehmenden über das auf der Tagesordnung stehende Thema. Dabei befassen sie sich mit Lösungsvorschlägen und den Pro- und Kontra-Argumenten dazu. Am Ende entsteht eine Liste von Handlungsempfehlungen, die in einem Bürgergutachten zusammengefasst der Politik übergeben werden. Dabei entstehen den Teilnehmenden keine Kosten. Um die Betreuung von Kindern oder die Pflege von Angehörigen wird sich gekümmert. Die Tagungsorte sind barrierefrei.

Bekannt geworden sind hier insbesondere die Citizens’ Assemblies in Irland zu Themen wie Abtreibung und Ehe für Alle. Angesichts der Klimakrise werden Bürgerräte aber auch bei diesem Thema zunehmend zur Erarbeitung von Lösungsvorschlägen eingesetzt. Gerade erst hat ein Klima-Bürgerrat in Frankreich 149 Empfehlungen zur zukünftigen Klimapolitik des Landes formuliert. Präsident Emmanuel Macron und die Regierung wollen die meisten dieser Vorschläge umsetzen.

Während ein Bürgerräten ähnliches Verfahren bereits seit den 70er Jahren mit den an der Universität Wuppertal entwickelten Planungszellen meist lokal immer wieder praktiziert wurde, fand die erste bundesweite Anwendung dieses Verfahrens erst vor kurzem statt. Im September 2019 hatten sich 160 zufällig ausgeloste Menschen aus ganz Deutschland in Leipzig getroffen, um Ideen zur Verbesserung der Demokratie in Deutschland zu entwickeln. Bei der von Mehr Demokratie und Schöpflin Stiftung in Zusammenarbeit mit den Beteiligungsunternehmen IFOK und Nexus organisierten Losversammlung entstanden Vorschläge wie die Einführung bundesweiter Volksentscheide, die Einrichtung einer Stabsstelle für Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie und die Schaffung eines Lobbyregisters. Angetan von den eigenen Erfahrungen vor Ort forderten die Losbürger:innen aber auch die Institutionalisierung von Bürgerräten auf Bundesebene.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble unterstützte die Bürgerrat-Teilnehmenden hierbei. „DerBürgerrat (…) ist ein wirklich wichtiger Ansatz und deswegen empfehle ich sehr, dass wir im Bundestag uns damit beschäftigen und auch versuchen, das umzusetzen“, sagte er bei der Entgegennahme der Empfehlungen des Bürgerrates im November. Ergebnis ist, dass der Ältestenrat des Bundestages sich im Juni für einen Bürgerrat ausgesprochen hat. Das Thema: Deutschlands Rolle in der Welt. Bundestagspräsident Schäuble wird offiziell die Schirmherrschaft über diesen Bürgerrat übernehmen. Die Ergebnisse sollen in die Entscheidungsfindung des Bundestages bei außenpolitischen Fragen einfließen.

Neben Bundestagspräsident Schäuble hatten aber auch eine Reihe von Bürgerrat-Teilnehmer:innen selbst bei ihren lokalen Bundestagsabgeordneten für die Umsetzung dieser und anderer Bürgerrat-Empfehlungen geworben. Sie besuchten die Abgeordneten dazu in ihren Wahlkreis-Büros und beraumten teilweise auch Pressegespräche an, um die Öffentlichkeit über ihre Arbeit zu informieren.

Hiermit zeigt sich ein weiterer positiver Effekt von Bürgerräten. Sie ermöglichen den Teilnehmenden die Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit. Zuvor meist politisch passive Menschen erleben sich als kompetent und entwickeln politisches Selbstvertrauen für ein dauerhaftes Engagement. Selbstwirksamkeit zu erfahren ist nicht zuletzt auch ein guter Schutz gegen Populismus und Extremismus.

Zufällig geloste Bürgerräte haben verglichen mit gewählten Parlamenten weitere Vorteile. Während Abgeordnete meist an eine politische Partei und deren inhaltliche Programmatik gebunden sind, sind Bürgerrat-Teilnehmende nicht in Parteikonkurrenz und Fraktionsdisziplin verfangen. Sie sind keiner Wähler:innengruppe verpflichtet und keinen Lobbyeinflüssen ausgesetzt. Vielmehr diskutieren Sie als Gleiche unter Gleichen auf Augenhöhe in einem machtfreien Raum. Es geht darum, einander zuzuhören, voneinander zu lernen und gemeinwohlorientiert gemeinsam Ergebnisse zu erzielen.

Mit dem kommenden Bürgerrat zu Deutschlands Rolle in der Welt geht es für Bundestagspräsident Schäuble „neben der Bearbeitung des genannten Themas vornehmlich auch darum, zu erforschen, ob ein solches neues Instrumentarium zur Unterstützung der parlamentarischen Arbeit taugt, und ein für die Bedingungen Deutschlands auf Bundesebene geeignetes Format zu entwickeln.“

Auf die weitere Entwicklung darf man also gespannt sein.

Mehr Informationen: www.buergerrat.de

Thorsten Sterk arbeitet seit 1998 für Mehr Demokratie. 20 Jahre lang war er im Landesverband NRW für die Öffentlichkeitsarbeit und für die Beratung kommunaler Bürgerbegehren zuständig. Seit Juli 2019 ist er mit ähnlichen Aufgaben Campaigner beim Bürgerrat Demokratie.