Europawahl 2014 – Beobachtungen zwischen Parteienkrise, Nichtwählern und Digital Citizens
Von Götz Harald Frommholz.
Die Europawahlen werden zeigen, in welche Richtung es mit der politischen Partizipation in Deutschland und der EU On- wie Offline geht. Zum ersten mal in der Geschichte des Europaparlaments wird es Spitzenkandidaten der Europaparteien geben, die sich zur Wahl stellen. Das ist wohl auch eine Maßnahme, um Europa einen persönlichen Anstrich zu verpassen. Ob das die traditionell schlechte Wahlbeteiligung positiv beeinflussen kann? Gleichzeitig ist in Deutschland die 3%-Hürde gefallen, was ein Grund für die Wiederauflegung der Debatte um die 5%-Hürde ist.
Somit stellt die kommende Europawahl auch einen Test dar, der zeigen wird, wie wir mit zusätzlichen Parteien in einem Parlament auf einer supranationalen Ebene zurecht kommen werden. Wird es eine mögliche Parlamentsblockade geben? 25 Parteien stellen sich allein in Deutschland zur Wahl und Parteien wie die AfD, Piraten oder NPD rechnen sich realistische Chancen aus. Auch das ist Grund genug, sich solch neuen Aspekten dieser richtungweisenden Wahl zu widmen. Dabei geht es nicht nur um die Parteienkrise, sondern auch um das Nichtwählerpotential im Zusammenhang mit dem Wegfall der 3%-Hürde und das Phänomen der Digital Citizens.
Niedrige Wahlbeteiligung und die Parteienkrise
Langsam mehren sich die Prognosen und Befürchtungen, dass die Wahlbeteiligung für die anstehende Europawahl den Trend der letzten Jahrzehnte fortsetzt und sich weiter in den Keller bewegen wird.[1] Die Entwicklung seit der ersten Europawahl 1979 scheint sich tatsächlich fortzuführen. Die Wahlbeteiligung lag damals zwar europaweit bei stolzen 63%, in Deutschland gingen sogar 65,7% der Wahlberechtigten zur Stimmabgabe. Doch von solchen Ergebnissen kann man heute nur träumen. Bei der letzten Wahl 2009 gaben lediglich 43,3% der deutschen Wählerinnen und Wähler ihre Stimme ab. Damit hat die hiesige Wahlbeteiligung nur 0,3% über dem europäischen Durchschnitt gelegen. Das ist ein frappierender Beteiligungsverlust, der symbolisch ist für die allgemeine Legitimationsfrage des Konstruktes EU-Parlament. Wenn man das mit der Bundestagswahl 2013 vergleicht, kann man wohl nicht darauf hoffen, dass sich die Wahlbeteiligung einschlägig verbessern wird. Damals gingen 71,5 % zur Urne. Das waren nur 0,72 % mehr als zu Zeiten des Tiefstandsrekords zur Bundestagswahl 2009[2]. Da hilft es, sich in das Gedächtnis zu rufen, was die Auslöser für das Abschneiden von Wahlen in Deutschland sein können.
Auf der einen Seite können wir den Rückgang der Wahlbeteiligung mit einem Identifikationsproblem der Bürgerinnen und Bürger mit den etablierten Parteien begründen. Die Friedrich-Ebert-Stifung (FES) hat schlüssig gezeigt, dass Nichtwähler größtenteils politisch interessiert sind. Sie stimmen lediglich nicht mit der Politik insgesamt überein (Güllner 2013). Vor allen Dingen haben sie ein Identifikationsproblem mit den etablierten Parteien. Diese Beobachtungen wurden durch die Gründung der Piratenpartei und der Alternative für Deutschland und deren Erfolge auch in der öffentlichen Wahrnehmung realpolitisch bestätigt. Alternativen zu den herkömmlichen Parteien werden also angenommen. Die Gründe sind hauptsächlich die herrschende Politikunzufriedenheit und der wahrgenommene Mangel an Alternativen. Für eine Gruppe junger Leute konnten wir diese Analyse bestätigen (Heyer und Hübner 2013). Gerade junge Menschen haben ein ausgeprägtes Problem mit dem Engagement in und der Identifizierung mit etablierten Parteien. Werner Patzelt beschrieb die allgemeine Situation kürzlich mit einer empfundenen Vorhersehbarkeit von Wahlergebnissen und mangelnder Polarisierung im Wahlkampf[3]. Wie soll man sich mit einer Partei identifizieren, wenn diese keine Herausstellungsmerkmale mehr hat gegenüber anderen?
Auf der anderen Seite haben wir speziell für die Europawahl das Problem der Legitimation. Für viele Bürgerinnen und Bürger ist das Europaparlament zu abstrakt. Stefan Rappenglückhat sich zum Fortschreiten der Wahlmüdigkeit zuletzt passend geäußert: „Dies[e] steht zu befürchten, zumal bereits bei den Kommunalwahlen eine kritische Masse erreicht worden ist. In der Regel ist den Bürgerinnen und Bürger die lokale Ebene wesentlich näher als die (scheinbar) weit entferntere europäische Ebene. Zugleich wurden und werden Europa-Wahlen eher als eine “nationale Ersatzwahl” gesehen, das heißt als Bestätigung für oder Protest gegen eine Regierung. Angesichts der Allmacht der Großen Koalition steht zu befürchten, dass viele Wählerinnen und Wähler gar nicht wählen werden, weil sie keine Unterschiede zwischen den Parteien erkennen können bzw. sehen. Es fehlt bisher an einer notwendigen Politisierung der Europawahlen.“[4]
In neun von 16 Bundesländern finden am 25. Mai neben der Europawahl ebenfalls Kommunalwahlen statt.[5] Es wird interessant sein, zu beobachten, ob der traditionell größere Anziehungseffekt der Kommunalwahlen sich auf die Europawahl auswirken wird. Werden mehr Menschen zur Europawahl gehen, weil gleichzeitig Kommunalwahlen sind? Daneben werden wir sehen, ob in diesen Bundesländern Kommunalwahlen genutzt werden, um die Bundespolitik abzustrafen und inwiefern das einen Einfluss auf die Europawahl hat. Wir werden in diesen Bundesländern erleben, ob sich die zunehmende Verlagerung einer personenbezogenen Wahl[6] auf der kommunalen Ebene sich zu einer Bestrafung der parteipolitischen Ebene[7] der Landes- und Bundespolitik verschiebt und/oder ob die Europawahl einen verstärkenden oder abschwächenden Effekt auf die Wahlbeteiligung hat. Können die Bürgermeisterkandidatinnen und ‑kandidaten durch ihre Persönlichkeiten überzeugen oder werden die Kommunalwahlen von Bundesthemen und Europaverdrossenheit überschattet?
Die große Unbekannte: Nichtwähler und der Wegfall der 3% Hürde
Die große Unbekannte in diesem Zusammenhang sind die Nichtwähler und ihr Frustrationspotential. Die Studie der FES machte eine erstaunliche Entdeckung bei der Analyse der Nichtwählerschaft. Ein Großteil der Nichtwähler wird in diesem Zusammenhang als „Wähler im Wartestand“ bezeichnet (Güllner 2013). Diese Typisierung zeigt, dass ohnehin schon politisch interessierte Nichtwähler sich nicht für immer von der Teilhabe im politischen System zurückziehen. Vielmehr deutet dieses darauf hin, dass bei einem passenden Angebot von Seiten der Parteien, dieser Teil der Bevölkerung zurück an die Wahlurnen gelockt werden kann. Die große Frage stellt sich nun: Was kann diese Menschen dazu bewegen, wieder Teil des Abstimmungsprozesses zu werden? Hier sind die Einflüsse der Populisten von Links und Rechts besonders interessant. Das wird spannend gerade in Bezug auf die EU-Kritiker der AfD und NPD, die sich über ihren Anti-Europa-Kurs profilieren und so Stimmen sichern möchten. Das gilt jedoch nicht nur für die deutschen Parteien, die am demokratischen Rand fischen. Das Erstarken rechter Parteien muss auf europäischer Ebene mit Spannung und Besorgnis verfolgt werden. Gaelike Conring hat hierzu ein paar sehr interessante Zeilen verfasst.[8]
Europa wird als weit weg angesehen. Bürgerinnen und Bürger sehen sich dort nicht repräsentiert und haben das Gefühl, eh keinen Einfluss nehmen zu können. Diese Debatte wurde nach der letzten Bundestagswahl besonders angeheizt. Im aktuellen Bundestag sind nur 60% der Wahlberechtigten vertreten. Das liegt auch am Ausscheiden der FDP und dem Fasteinzug der AfD. Das hat den Verfechtern für die Abschaffung der 5%-Hürde wieder starken Aufwind gegeben. Weiter aufgewirbelt wurde die Diskussion durch die Abschaffung der 3%-Hürde für die Europawahl. Genau diese könnte ein interessantes Motiv sein, den einen oder anderen Nichtwähler zur Urne zu locken. Denn nun haben politische Alternativen wie die AfD, Piraten oder NPD deutlich höhere Chancen, in das Parlament einzuziehen. Welchen Einfluss diese Situation auf das Wahlverhalten haben wird, ist eine der spannendsten Beobachtungen der kommenden Wahl. Die kleineren Parteien scheinen ihre Chance offen nutzen zu wollen. In ihren Werbefilmen und Wahlkampfmaterialien weisen sie ständig darauf hin. Ob das eine Chance für die Demokratisierung der EU-Institutionen sein kann oder der Anfang ihres Endes, ist zu diesem Zeitpunkt unvorhersehbar.
Die Chance des Internets: Digital Citizens
Ein wesentlicher Schwerpunkt in diesem Jahr wird die Nutzung des Internet im Wahlkampf und dessen Effekt auf die Wahlbeteiligung und den Wahlkampfdiskurs sein. Hier sind natürlich die sozialen Netzwerke von großer Bedeutung. Wie man bei Sebastian Schmidtsdorf auf wahl.de nachlesen kann, sollen zum Stand vom 10.03.2014 52,41% aller Europakandidaten ein Facebook-Profil, 21,93% eine Facebook-Fanseite, 25,66% ein Twitter-Konto und 14,25% ein YouTube-Konto betreiben. Das ist bereits beachtlich, doch gibt es noch Luft nach oben. Auch können wir gemessen an Prozenten keine qualitativen Aussagen treffen. In unserer Studie zum Online-Verhalten von 156 Kandidaten zur Bundestagswahl 2013 konnten wir feststellen, dass die Bewerberinnen und Bewerber teilweise erheblichen Aufholbedarf haben, was die Interaktivität, Konstanz und Qualität der einzelnen Internetauftritte betrifft (Frommholz und Hübner 2013). Wir werden zur Europawahl unsere Studie wiederholen und eventuelle Veränderungen aufgrund unserer Beobachtungen dokumentieren.
Vielleicht ist es aber noch gar nicht so schlimm, dass der Wahlkampf noch nicht so massiv (qualitativ) in das Internet vorgedrungen ist. Schließlich halten sich um die 47% der Deutschen aus der politischen Kommunikation heraus — sowohl online als auch offline. Dieses tun sie aus unterschiedlichen Gründen wie Alter, Schichtzugehörigkeit, Bildungsabschluss oder Einkommen, wenn man Gerhard Vowe (2014) glauben darf, der sich auf eine repräsentative Langzeitstudie bezieht. Er führt weiter aus, dass ca. 37% der Befragten angaben, (überdurchschnittlich) politisch interessiert und/oder engagiert zu sein. Ihr politisches Interesse gelte generell oder in organisierter Form bspw. Initiativen, Vereinigungen oder Parteien. Dieses gute Drittel der Bevölkerung zeichnet sich doch eher durch die Nutzung traditioneller politischer Kommunikation aus, wie u.A. Zeitungslesen, Diskussionen oder Infostände besuchen. Das Internet wird von ihnen nur bedingt für die politische Kommunikation genutzt. Das heißt, aus dieser Perspektive muss der heutige Wahlkampf nicht mit dem Schwerpunkt Internet geführt werden, da man die Interessierten eh mit den herkömmlichen Medien und Aktionen erreicht.
Das sieht wiederum anders aus, wenn man eine weitere Gruppe hinzufügt, die in dieser Studie auftaucht. Die „Digitial Citizens“ stellen etwa 16% der Bevölkerung. Ihre politische Kommunikation wird durch ihre Onlineaktivitäten bestimmt. Informationen, Organisation und Austausch werden primär online gesucht und über soziale Plattformen transportiert. Diese Gruppierung hat sich seit den 80er Jahren entwickelt, ist politisch interessiert aber nicht parteigebunden. Das ist eine nicht unerhebliche potenzielle Wählerschaft, die man ansprechen sollte. Aus dieser Perspektive ist es unerlässlich, die Entwicklung des Onlinewahlkampfes zu beobachten, zu kommentieren und zu kritisieren. Denn Gerhard Vowe zeichnet für die Zukunft der politischen Kommunikation und der daraus folgenden Partizipation ein eindeutiges Bild: Den Digital Citizens gehört die Zukunft. Sie werden über die Zeit die konventionell Interessierten und Engagierten absorbieren und die neuen Standards für die politische Kommunikation wie Partizipation setzen. Wenn wir uns vor diesem Hintergrund das Onlineverhalten der Parteien anschauen, muss da noch viel mehr passieren. Die Europawahl wird daher eine gute Leistungsmarkierung sein, um die Zukunftsorientierung der 25 antretenden deutschen Parteien zu beurteilen. Werden wir Digital Parties erleben?
Zum Abschluss
Alles in allem dürfen wir uns auf eine wohl richtungweisende Europawahl freuen. Es wird spannend sein zu sehen, ob die Parteien in ihrem Wahlkampf die Menschen ansprechen, von der allgemeinen Politikenttäuschung ablenken und „Wähler in Wartestellung“ aktivieren können, um den Legitimationsgrad der Europawahl durch die Wahlbeteiligung wieder akzeptabel zu machen. Des Weiteren dürfen wir gespannt sein, ob der Wegfall der 3%-Hürde zur Wählermobilisierung beiträgt. Gleichzeitig bedarf es einer genauen Beobachtung, welche zusätzlichen Parteien in das Parlament einziehen. Letztendlich geht es auch um die Zukunftsfähigkeit der politischen Akteure. Inwiefern sind die einzelnen Kandidatinnen, Kandidaten und ihre Parteien auf die Zukunft des Wahlkampfes eingestellt, die für einige Wählergruppen bereits heute fester Bestandteil der politischen Informationskette ist?
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir es sind, die durch unsere Partizipation diese Zukunft On- wie Offline bestimmen.
Literatur
Frommholz, G. H. und Hübner, C. 2013 Wahlkampf im Internet: Wie Kandidaten das Netz nutzen — Eine Studie zur Internetpräsenz der Direktkandidaten zur Bundestagswahl 2013, Berlin: d|part.
Güllner, M. 2013 Nichtwähler in Deutschland: Dietmar Molthagen/Friedrich-Ebert-Stiftung.
Heyer, A. und Hübner, C. 2013 ‘„Von der gesellschaftlichen Verantwortung und so…!“ Motivationen & Barrieren für politische Beteiligung’, Berlin: d|part.
Vowe, G. 2014 ‘Digital Citizens und Schweigende Mehrheit: Wie verändert sich die politische Beteiligung der Bürger durch das Internet? Ergebnisse einer kommunikationswissenschaftlichen Langzeitstudie’, in K. Voss (ed) Internet und Partizipation: Springer Fachmedien Wiesbaden.
[1] Bspw.: http://www.welt.de/politik/deutschland/article127489496/Die-Europawahl-ist-den-Deutschen-herzlich-egal.html
[2]Datenquellen: Bundeswahlleiter und Europäisches Parlament
[3] http://www.freiepresse.de/LOKALES/MITTELSACHSEN/FREIBERG/Waehlen-ist-keine-Pflicht-artikel8775527‑1.php (zuletzt aufgerufen am 29.04.2014, 12 Uhr)
[4] http://www.br.de/wahl/europawahl-eu-parlament-interview-100.html (zuletzt aufgerufen am 29.04.2014, 12:10 Uhr)
[5] http://www.wahlrecht.de/termine.htm (zuletzt aufgerufen am 29.04.2014, 12:15 Uhr)
[6] Die Kandidatin/der Kandidat sind entscheidend für die Wahlentscheidung der Bürgerinnen und Bürger.
[7] Mögliche Sympathien für eine Kandidatin/einen Kandidaten werden von der Einstellung zur Landes- oder Bundespolitik überdeckt
[8] http://dpartblog.wordpress.com/2013/11/19/going-european-the-need-for-reining-in-the-anti-eu-right/
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Dr. Götz Harald Frommholz ist Mitgründer von d|part und leitet den Think Tank als Managing Director. Dazu arbeitet er als Policy Analyst beim Open Society European Policy Institute(OSEPI) und leitet die politische Anwaltschaft der Open Society Foundations (OSF) in Deutschland. Er hat in Bielefeld Soziologie studiert und promovierte im selben Fach an der University of Edinburgh. Darüber hinaus ist er als Dozent für diverse Hochschule und Stiftungen tätig.
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