Viele Kreuze für Bosnien
Von Jan Liebnitzky.
In Bosnien und Herzegovina wurde am 12. Oktober gewählt. Das Land ist seit dem Jugoslawienkrieg ethnisch zersplittert und hat ein kompliziertes politisches System mit drei Präsidenten an der Spitze. Erfahrungsbericht eines Wahlbeobachters.
Es ist Punkt 7 Uhr in der Frühe und viel zu kalt. An den Wänden hängen gebastelte Eiffeltürme und Verkehrszeichen. Geschlagene acht Minuten verbringt die erste Wählerin hinter der weißen Pappwand. Wir hingegen sitzen bereits seit einer Stunde auf zu kleinen Stühlen im Klassenzimmer der 5a in der Altstadt in Sarajevo. Wir sind Marija aus den Niederlanden und Jan aus Deutschland von AEGEE Europe. An unserer Jacke hängt ein eingeschweißtes rosa Kärtchen, welches uns als internationale Wahlbeobachter akkreditiert. Zu dieser Unzeit beobachteten wir müde die Zählung der leeren Wahlzettel in 25er Bündeln, schüttelten die Wahlurne, um zu prüfen, ob sie leer ist und schauten nach, ob sie fachgerecht versiegelt wurde.
In Bosnien und Herzegowina wurde am 12. Oktober gewählt. Bereits zuvor war klar, dass es nicht zu großen Veränderungen in der politischen Landschaft kommen würde. „Ich gehe wählen, aber ändern wird sich nichts“, kommentierte ein Passant die bevorstehende Wahl. So sehen das hier viele. Dabei schien es am Anfang des Jahres noch ganz anders: Empörte Bosnier protestierten in mehreren Städten teilweise gewaltsam gegen korrupte politische Eliten und Misswirtschaft. Viele Politiker der regionalen Regierungen traten wegen der Proteste zurück und es formierten sich ein Bürgerplenum, um den Forderungen der Demonstranten auch abseits der Straßen Gehör zu verschaffen. Doch eine wählbare Partei entstand nicht.
Mittlerweile haben schon zehn Wählerinnen und Wähler ihre Kreuze hinter der Pappwand gemacht, um dann die vier Wahlzettel einzeln in die Urne zu stecken. Es darf nicht gestopft werden. Marija und ich schauen genau hin. Denn wenn ein Zettel unentdeckterweise nach draußen gelangt, kann es zum Carousel Voting kommen – Wahlbetrug. Der „Wähler“ bekommt dabei einen vorgekreuzten Zettel außerhalb des Wahlbüros, den er dann drinnen in die Urne wirft. Dafür bringt er seinen eigenen leeren Zettel nach der Wahl heraus. Angeblich ist ein derartiger Wahlzettel, also eine Stimme, in den ländlichen Gebieten Bosniens knapp 25 Euro wert. Ein weiteres Problem kann sich bei der Stimmauszählung am Abend ergeben. Beobachterinnen und Beobachter sollen darauf achten, dass keine Wahlzettel ungültig gemacht werden oder Stimmen hinzugefügt werden. Größere Unregelmäßigkeiten fallen uns aber in keinem der besuchten Wahllokale auf — weder auf dem Land in Binjezevo und Hadzici, noch bei der nächtlichen Auszählung im Osten von Sarajevo.
Mehrere politische Systeme für drei Ethnien
Der Vertrag von Dayton teilte Bosnien und Herzegowina 1995 in zwei weitestgehend unabhängige Entitäten mit verschiedenen politischen Systemen. Die Republika Srpska (RS) ist mehrheitlich von Serben und Serbinnen bewohnt. Die Föderation Bosnien und Herzegowina (FBuH) hingegen bewohnen vor allem Bosniakinnen und Bosniaken (bosnische Muslime) und christliche Kroatinnen und Kroaten. Beide Gebiete haben eine eigene Entitäts- und kommunale Regierungen, bzw. in der Föderation Bosnien und Herzegowina gibt es mehrere Kantonalregierungen. Auch das Präsidentenamt ist entlang ethnischer Linien geteilt: Ein muslimischer Bosniake, ein christlicher Kroate und ein orthodoxer Serbe wechseln sich alle acht Monate mit dem Präsidentschaftsamt ab. Auch die Parteien organisieren sich meist entlang ethnischer Grenzen. Dieses ethnische Proporzsystem gibt es ebenso für andere politische Organe und zementiert seit Jahren den politischen Stillstand des Landes z.B. bei der Umsetzung von Menschenrechten. Das belegt auch der letzte Progress-Report zur Annäherung an die Europäische Union (2013): Anderen Minderheiten wie den Juden oder Roma wird der Zugang zu öffentlichen Ämtern strukturell versagt. Ein Jude kann mit der jetzigen Verfassung nicht für das Präsidentenamt kandidieren.
Die Komplexität des politischen Systems spiegelt sich auch in den Wahlen des Landes wider: Es gibt vier verschiedene Wahlzettel und auch diese sind nicht einheitlich für das gesamte Land. Denn in der Republik Srpska werden andere Kandidatinnen und Kandidaten und politische Organe gewählt als in der Föderation Bosnien und Herzegowina.
Der für das kleine Balkanland riesige Staatsapparat, mit hunderten Ministerien und dem dazugehörigem Personal versorgt viele Menschen mit einem Arbeitsplatz. Bei 40% Erwerbslosigkeit ist der Staat in Bosnien und Herzegowina der wichtigste Arbeitgeber. Die herrschende politische Klasse bleibt auch nach den Wahlen bestehen, weil zu viele Menschen von diesem Status quo profitieren. Wer eine neue non-konformistische Partei wählen würde, dessen eigener Arbeitsplatz oder der eines Verwandten wäre in Gefahr.
Stefan ist Wahlhelfer in Garovci und hat während des Bosnienkrieges in Bayern gelebt. Im perfekten Deutsch erklärt er Marija und mir, dass die anderen anwesenden bosnischen Wahlbeobachter und ‑beobachterinnen verschiedenen Parteien angehören. Die meisten von ihnen sind jung und kreuzen auf ihren Listen alle Wählerinnen und Wähler ab, die zu ihrer eigenen Partei gehören. Taucht ein Parteimitglied bis zum Nachmittag nicht auf, wird es per Telefon daran erinnert wählen zu gehen.
Dann werden die Türen von der Wahlleiterin punkt 7 Uhr verriegelt. Niemand darf mehr eintreten oder das Wahllokal verlassen, bis alle Stimmen ausgezählt sind. Insgesamt sind wir nun 20 Leute: vier internationale Wahlbeobachter und ‑beobachterinnen, 12 parteinahe Beobachter und Beobachterinnen und knapp 10 Leute, die Stimmen auszählen. Tische werden zusammengeschoben und Ritzen verklebt. Stifte außer Reichweite gelegt und Ehe-Ringe von den Fingern genommen – die Hände als Beweis nach oben in die Luft gestreckt. Dann geht das Zählen los. Ein erstes kleines Drama passiert, als schon bei der ersten Gesamtzählung der verschiedenen Wahlzettel eine Stimme fehlt. Müssen jetzt alle Stimmen neu ausgezählt werden? Als sie doch auftaucht, ist die Erleichterung aller förmlich zu spüren. In den nächsten Stunden bildet sich eine kleine Schicksalsgemeinschaft. Bis fünf Uhr morgens sind wir hier: Zählen. Ruhe und Konzentration bewahren. Weiterzählen. Als ein Wahlzettel mit einem extra Kreuz für Wladimir Putin auftaucht, kurzes auflachen. Dann wieder weiterzählen.
Weitere Informationen über den Ablauf der Wahl in BuH finden sich bei der OSZE und bei AEGEE Europe.
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Jan Liebnitzky studiert Psychologie und Ökonomie an der TU Dresden und schreibt zurzeit seine Diplomarbeit zum Thema individueller Moralisierungsprozesse und Einstellungen bezüglich humanitärer Interventionen.
Disclaimer
Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten und Meinungen entsprechen denen des Autors.